Sachgeschichte: In den bedeutenden europäischen Märchenbüchern des 16. und 17. Jhs. (z. B. Straparola, Basile, Sarnelli oder Perrault; Märchen) gehen aus der Volkstradition aufgenommene Märchen mit eigenkünstlerischen Gestaltungen eine fast ununterscheidbare Verbindung ein. In dieser Zwischenlage, die der gattungsmäßigen Ausformung des Kunstmärchens vorausgeht, sind bis zum Erscheinen der Grimmschen ,Kinder- und Hausmärchen' so gut wie sämtliche Märchenerzählungen angesiedelt, besonders deutlich etwa in Musäus' ,Volksmärchen der Deutschen' (1782 - 86), aber auch schon in den Binnenmärchen Wielands, z. B. im Rahmen des als Märchenkritik angelegten ,Don Sylvio'-Romans (1764), und in Jung-Stillings Lebenserinnerungen (1777/78). Unterschieden sind diese frühen Zeugnisse untereinander indes durch die Art der Quellen (Wieland der schriftlichen, Jung-Stilling und Musäus der mündlichen Tradition folgend) und die Tonart, die zunächst bei fast allen Märchendichtern durch ironische Distanz gekennzeichnet ist. Jung-Stilling allerdings nimmt die Erzählung ernst, gestaltet sie aber zugleich mit raffinierter Naivität, so daß drei seiner Texte unverändert in Grimms Märchensammlungen aufgenommen wurden. Wilhelm Grimm hat sich erkennbar an Jung-Stillings Erzählweise in ,Jorinde und Joringel' orientiert, als er 1827 mit ,Schneeweißchen und Rosenrot' (inhaltlich auf einer märchenhaften Erzählung Caroline Stahls basierend) seinerseits ein Kunstmärchen im Volkston für Hauffs ,Märchenalmanach' verfaßte und später in die ,Kinder- und Hausmärchen' aufnahm.

Daneben entwickelte sich seit Goethe und zunächst nach seinem Vorbild eine von direkten Quellen unabhängige Kunstmärchen-Dichtung. Zwar war Goethe mit schriftlicher und mündlicher Märchentradition gut vertraut (vgl. die Binnenmärchen in ,Dichtung und Wahrheit'), aber in seiner programmatisch ,Das Märchen' genannten, überwiegend allegorisch verfahrenden und der Zeitgeschichte enthobenen Dichtung, die seine ,Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten' (1795) wie eine Blüte die Blätter krönt, verwandte er nur noch einzelne Märchenmotive verschiedenster Provenienz (Rolle der Metalle, der Schlange, der Brücke etc.). Im Blick auf diese wohl weithin undeutbare Wundererzählung nahmen sich die Romantiker die Lizenz zu ihren Wunder und Realität phantastisch mischenden Erzählungen. Novalis definierte sogleich das Märchen als das Maß („Kanon") aller Poesie und forderte „alles poetische muß mährchenhaft seyn" (Novalis 3, 449).
Er schuf drei Kunstmärchen, für ihn das einzig geeignete Medium, die Visionen einer vergangenen Goldenen Zeit wie eines künftigen geordneten Chaos darzustellen. Die durchweg gegebene triadische Struktur (vergleichbar These - Antithese - Synthese) machte sich auch Tieck für seine umfangreichen Märchendichtungen zu eigen; ,Der blonde Eckbert' und ,Der Runenberg' sind die für Tieck und seine Rückbindung an die Aufklärung charakteristischsten. Die Allegorisierung der Natur- und Gesellschaftsgeschichte führt die Helden nicht wie bei Novalis zum ersehnten Ziel, sondern in den Wahnsinn. Der im ,Runenberg' angeschlagenen Künstlerthematik folgen neben Brentano (,Schulmeister Klopfstock') und E. T. A. Hoffmann (,Der goldne Topf’ ) noch Hofmannsthal und Hesse in einigen ihrer Kunstmärchen. Brentanos unabgeschlossene Märchenprojekte (,Italienische Märchen', ,Rheinmärchen') treffen in ihrem utopischen Ausblick auf eine Welt reiner Kindlichkeit; Hoffmann diskutiert in seinen Märchen in der Nachbarschaft seiner ,Nachtstücke' das Verhältnis von Phantastik und Moral; Hauff führt realistische Schreibweisen und eine ernüchternde Sachlichkeit in das Kunstmärchen ein. Eine thematische Konstante ist die durchgängige Auseinandersetzung mit dem Wunder, das anders als im Volksmärchen fast nie als selbstverständlich eingebracht ist. Wenn es nicht satirisch aufgefaßt (Hoffmann) oder zur Charakterisierung kindlicher Naivität (Brentano) verwendet wird, wirkt es oft verstörend, so daß viele Kunstmärchen tragisch enden (vgl. hier auch die Märchennovellen Fouques, Chamissos und Contessas). Der Blüte des Kunstmärchens in der Romantik entspricht eine Wiederbelebung in der Neuromantik um 1900 (Hofmannsthal, Hesse). Die weniger phantastische, eher behagliche Kunstmärchendichtung des Realismus (Mörike, Keller, Ludwig, Storm) legitimiert sich durch Tendenzen Hoffmanns, seine Kunstmärchen in der Gegenwart festzumachen. Seit dem Expressionismus (Heym, Döblin) dominiert in der Moderne neben durchgängiger Psychologisierung eher eine spielerische oder groteske, zuweilen auch eine pädagogische Gestaltung (z. B. Döblins ,Märchen vom Materialismus', Hildesheimer, Chr. Meckel, P. Hacks, Rühmkorf, I. Bachmann) neben einer Vielzahl von Parodien und Kontrafakturen.