Märchen

Mündlich oder schriftlich tradierte, in international verbreiteter Motivik verankerte Prosaerzählung, in der die Bedingungen der Wirklichkeit aufgehoben scheinen.

Explikation: Als ,Märchen' gelten Erzählungen unterschiedlichster Art, die aber zumindest darin übereinstimmen (sollten), daß (1) Verfasser, Entstehungszeit, -ort und -zweck unbekannt sind, (2) sie im Lauf ihrer Überlieferung variiert wurden, (3) sie vom Wunderbaren (partielle Aufhebung der Naturgesetze) wie selbstverständlich erzählen, aber nicht in jeder Hinsicht glaubwürdig sein wollen. Durch (1) und (2) sind sie als sogenannte Volksmärchen von der Kunstliteratur (insbesondere vom Kunstmärchen), durch (3) von anderen (ggf. ebenfalls anonymen) Wundergeschichten abgegrenzt, denn Mythe, Sage oder Legende berichten vom Wunder als vom Außergewöhnlichen und mehr oder weniger mit dem Anspruch auf Glaubhaftigkeit.

Die Schreibart des Märchens ist (nach Lüthi) gekennzeichnet durch abstrakten Stil (entsprechend seiner ,Wirklichkeitsferne'), Flächenhaftigkeit und Isolation der Figuren, Eindimensionalität der Wirklichkeitswahrnehmung, Sublimation als ,Entwirklichung' sowohl des Magischen als auch des Alltäglichen. Von Märchensammlern und -deutern sind diese Kriterien seit je zu wenig beachtet worden, so daß unter dem Begriff ,Märchen' u. a. auch Sagen, Schwänke, Rätsel- und Warn- oder Lügengeschichten aller Art subsumiert werden. Als Kriterien für die Gattung sind fälschlich vereinseitigend schlichter Unterhaltungswert, Bewahrung von (Natur-, Astral- und anderen) Mythen, Kindhaftigkeit, pädagogische Eignung, Realisierungen von Archetypen usw. diskutiert worden.

Wortgeschichte: Märchen ist Diminutivform zum mhd. Substantiv (daz) maere ,Kunde', ,Nachricht', abgeleitet von ahd. mari ,berühmt' (Maere). Noch Luther braucht frnhd. Mä(h)r im Sinn von ,wichtige und höchstbeglaubigte Nachricht' (Evangelium). Die seit dem 13. Jh. belegte Diminutivform (obdt. -lein, mitteldt. -chen, nd. -ken) deutet auf die (durch mündliche Tradition bedingte) Kürze solcher Nachrichten hin, zugleich aber auch auf ihren zweifelhaften Wahrheitsanspruch (z. B. merl in Johannes Aventins ,Bayerischer Chronik', 1522/ 33: ,unglaubwürdige Geschichten'). Diese abwertende Bedeutung herrscht bis ins 18. Jh. vor. Zugleich wird es daneben schon seit dem 16. Jh. auch als Gattungskennzeichnung (Predigtmärlein, Ammenmärchen) verwendet.

Klaus Düwel: Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur (1050- 1250). Göttingen 1983, S. 205 - 207. —DWb 12, Sp. 1615-1620.—EM 1, Sp. 463f; 9, Sp. 250f., 345 - 347. — Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. Tübingen 21983, S. 78-84. - Lexer 1, Sp. 2045 f.

Begriffsgeschichte: Mit dem Titel ihrer erstmals 1812/ 14 erschienenen Sammlung ,Kinder- und Hausmärchen' haben die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm (1785 - 1863; 1786-1857) das Wort in seiner mitteldt. Form endgültig als Gattungsbegriff durchgesetzt, und zwar im ähnlichen Sinn, wie ihn Musäus (,Volksmärchen der Deutschen', 1782 - 86) mit seiner (an Herders Begriff Volkslied angelehnten) Prägung ,Volksmärchen' aufgefaßt hatte: fiktionale, früher oder gegenwärtig mündlich (im ,Volk', im ,Haus') verbreitete Prosaerzählungen mit ausgeprägter Vorliebe für Wunderhaftes (Phantastisch) und (im Gegensatz zur Sage) ohne Anknüpfung an bestimmte geographische oder historische Sachverhalte. Daß es sich dabei ursprünglich und zunächst noch um Texte von Erwachsenen für Erwachsene handelt, geht aus den Definitionen und Intentionen von Musäus und den Grimms (Vorreden zu ihren Sammlungen) ebenso hervor wie aus der etwa gleichzeitigen Adaptation des Begriffs durch Wieland und Goethe für deren Kunstmärchen in Versform oder Prosa. Erst die veränderten soziologischen und geistesgeschichtlichen Verhältnisse zu Anfang des 19. Jhs., besonders die Herausbildung der Kleinfamilie und ihrer Kommunikationsstrukturen (Intimisierung, Emotionalisierung), brachten die Kinder als Adressaten ins Spiel, so daß die Gattung, auch wegen ihrer scheinbaren ,Unvernünftigkeit', zunehmend als Kinderliteratur aufgefaßt und gewertet wurde. Die Romantik deutete diese Einschätzung um. Sie hebt das Unverbildete als Voraussetzung der Rezeption hervor und sucht dementsprechend auch den Ursprung des Märchens im ,Volk'. Die volkskundlich und literaturwissenschaftlich geprägte Märchenforschung erwies die literatursoziologischen Annahmen als unhaltbar. Ein sprunghaft ansteigendes Interesse des erwachsenen Lesepublikums zu Ende des 20. Jhs. kehrt gewissermaßen zu vorromantischen Positionen zurück.

[Johann Gottfried Herder u.a.:] Von deutscher Art und Kunst. Hamburg 1773. — [Johann Karl August Musäus:] Volksmärchen der Deutschen.5 Bde. Gotha 1782-86—Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm.2 Bde. Berlin 1812/15; 3 Bde. Berlin 1819, 1822; Göttingen 218s6