Kunstmärchen

Prosaerzählung nach dem Muster oder mit Motiven des Volksmärchens, besonders durch Einbeziehung des Wunderbaren gekennzeichnet.

Explikation: Als Kunstmärchen gelten Texte, die im Gestus des Märchens erzählen, jedoch im Kunstwillen namentlich bekannter Autoren und bestimmbarer literarischer Richtungen gründen. Der erst in neuerer Zeit gefundene und definierte Gattungsbegriff wird also nur auf Erzählungen angewandt, deren Verfasser, Entstehungszeit sowie autorisierte Textgestalt bekannt sind und die ein schon vorliegendes Gattungsmodell imitieren. Insofern versteht man sie auch als ,künstliche' Weiterführungen der ,Einfachen Form' (Jolles) Volksmärchen, deren ,Künstlichkeit' nicht nur in der Nachahmung eines Musters, sondern im Bewußtsein der Unwahrscheinlichkeit des Wunderbaren (Mayer/Tismar, 3) gründet, also einer rationalen Distanz, die überwunden oder (spielerisch, ironisch) genutzt werden soll.

Ohne daß das Problem gründlich genug diskutiert worden wäre, besteht inzwischen weitgehend Übereinstimmung darüber, daß als Kunstmärchen in erster Linie die märchenhafte Prosaerzählung zu gelten hat und andere Formtypen (Versmärchen, Märchenballade, -drama, -spiel, -oper usw.) zurücktreten. Dies erscheint vor allem im Hinblick auf die Prosa-Gestalt des Volksmärchens sinnvoll, zumal die Versmärchen des späten 18. Jhs. nicht traditionsbildend wirkten.

Die Ausrichtung des Kunstmärchens auf das Volksmärchen darf nicht als Abhängigkeit von bestimmten (schriftlich fixierten) Texten oder auch Typen (,Gattung Grimm') mißverstanden werden: Bedeutende Kunstmärchen (Goethe, Tieck, Novalis) entstanden vor der schriftlichen Fixierung der Volksmärchen, bei anderen (z.B. E.T. A. Hoffmann) ist auszuschließen, daß sie — wie auch immer — an bestimmten Volksmärchen orientiert sind.
Wortgeschichte: Das Kompositum, das als Ausgrenzung gegenüber dem Gattungsbegriff Märchen entstanden ist, begegnet in einem Brief Th. Storms („weil nichts so spärlich in unserer Literatur vertreten ist als - der Ausdruck sei gestattet - das Kunst-Märchen"; 25.5.1868 an Th. Fontane) und offenbar erst sehr spät in der literaturwissenschaftlichen Terminologie. Das Grimmsche Wörterbuch (Dwb 11; 1873) nennt es noch nicht, so daß der fachwissenschaftliche Erstbeleg vorläufig im Titel der Dissertation von Hermann Todsen (,Über die Entwicklung des romantischen Kunstmärchens', München 1905) zu sehen ist.


Begriffsgeschichte: Der Begriff hat sich anscheinend in Analogie zur Bezeichnung Kunstlied (in Abgrenzung zum Volkslied: Koßmaly 1841) durchgesetzt, war von Beginn an (vgl. EM 8, 612 f.) und ist bis heute ein spezifisch literaturwissenschaftlicher Terminus und wurde bezeichnenderweise noch von keinem Kunstmärchen-Dichter (etwa als gattungskennzeichnender Untertitel einer Geschichte) benutzt: Die Dichter nennen ihre Werke gegebenenfalls stets Märchen.