Sachgeschichte: Die Eigenart der Überlieferung läßt für die Entstehung der Gattung nur ungesicherte Hypothesen zu. Daß in Antike und Mittelalter kein Märchen überliefert ist, das den Gattungseigentümlichkeiten entspricht, wie sie sich später herausgebildet haben - wohl indes Märchenmotive in Fülle, die sich nur gelegentlich zu (national sehr unterschiedlichen) Erzählkomplexen verdichten (z. B. das ägyptische ,Zwei Brüder-Märchen', der ,Goldene Esel' des Apuleius, die sogenannten ,Märchen aus 1001 Nacht') - , gibt zu Spekulationen Anlaß, die von der Nichtexistenz der Gattung bis zur Vermutung der Allbekanntheit solcher Texte (so daß sie nicht aufgeschrieben werden mußten) reichen. In eins damit stellt sich nicht nur die Frage nach der Entstehungszeit des Märchens (Thesen umfassen den Zeitraum von den Anfängen der Menschheit bis zum 18. Jh.), sondern auch nach Herkunft und Verbreitung: (1) Monogenese; einmalige Erfindung und Wanderung (Benfey); (2) Polygenese; mehrmalige, voneinander unabhängige Erfindung, ,Ausdruckszwänge' verschiedener Entwicklungsstufen jeweiliger Erzählgemeinschaften (Finnische Schule); (3) Archetypik; Gestaltung menschlicher Grundbefindlichkeiten (C. G. Jung); (4) Zielform; Märchen sind immer auf dem Weg zu ihrer Idealform, die also nicht im Ursprung, sondern in der Zukunft liegt (Lüthi). Die Frage, ob das Märchen eine Vorform des Mythos oder dessen Weiterleben in einer Art Schwundstufe darstellt, ist damit nicht beantwortet. Geht man von der monogenetischen These aus, so sind jedenfalls alle (Volks-)Märchen zunächst Kunstmärchen und haben ihren eigentlichen Charakter erst durch die Überlieferungsgeschichte (Verlust der ,Urfassung' und deren Umgestaltung) gewonnen.

Die entscheidende, den Typus prägende Wende erfuhr die Geschichte des Märchens im späten 18. und frühen 19. Jh. Musäus und die Grimms fanden zwar noch eine mündliche Märchentradition vor, doch war diese auf einen kleinen, keineswegs für das erzählende Volk (oikotypisch oder gar soziologisch) repräsentativen Beiträgerkreis beschränkt und zeigte zudem fast immer Einfluß durch schriftliche Traditionen. Man kann daraus schließen, daß die mündliche Tradition (Oralität) immer wieder der Stützung durch schriftliche Formulierungen bedurfte. Dieses Wechselspiel ist bis ins 16. Jh. zurückzuverfolgen: Luther spielt in seinen ,Tischreden' (passim), Gailer von Kaisersberg in Predigten auf anscheinend allbekannte Märchen an, 1591 spricht Rollenhagen von den „wunderlichen Hausmärlein [...] welche ohne Schrift immer mündlich auf die Nachkommen geerbet wurden" (Vorrede zum ,Froschmeuseler'). Daneben stellen sich die Veröffentlichung des ,Erdkuolin'-Märchens durch Montanus (1550) und z. B. Bearbeitungen von Märchensujets durch Hans Sachs (,Die ungleichen Kinder Evas', ,Das junggeglühte Männlein' u. a.) und immer wieder Übersetzungen vor allem der Feenmärchen (z. B. Madame d'Aulnoy, ,Contes des fees', dt. 1762; Madame de Villeneuve, ,Cabinet des fees', dt. 1790-97). Auch in italienische Erzählsammlungen (besonders Straparola, ,Le piacevoli notti', 1550/53; Basile, ,Lo cunto de li cunti', dt. 1846) sind Märchenstoffe eingearbeitet; Charles Perrault hat seit 1693/94 eine kleine Sammlung nacherzählter Volksmärchen herausgegeben (zusammengefaßt 1697: ,Histoires ou Contes du temps').
Mit den Sammlungen und Forschungen der Brüder Grimm wurden nicht Urfassungen von Märchen aufgefaßt oder rekonstruiert, sondern ein neues literarisches Genre, die ,Gattung Grimm' (Jolles) oder das ,Buchmärchen' (Lüthi) entwickelt: zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit angesiedelte, durch Kontaminationen und stilistisch durchgreifende Überarbeitungen einmalig geprägte Texte, die in aller Welt irrtümlich für die unverfälschte Wiedergabe einer nach Jahrhunderten noch um 1800 in Hessen lebendigen Tradition aufgefaßt wurden und in diesem Sinn unzählige Nachahmungen zeitigten. Dabei spiegelt die jüngste Traditionsgeschichte offenbar die älteren Verhältnisse wider: Grimms Formungen sind auf den verschiedensten Wegen in alle Welt gelangt und wurden häufig als Zeugnisse nationaler mündlicher Volksüberlieferungen aufgezeichnet und gedeutet, d. h. die zwischenzeitliche schriftliche Formung ist weithin wieder in die Mündlichkeit übergegangen. Bezeichnend sind dabei allerdings auch die neuerlichen Umformungen, wie sie sich schon in Bechsteins Bearbeitungen (seit 1845) mit Wiedereinführung und Betonung etwa der von Wilhelm Grimm ausgeblendeten sozial- oder religionskritischen Elemente finden.

Forschungsgeschichte: Eine seriöse Märchenforschung begann mit den Brüdern Grimm, die der Volksliteratur erstmals Respekt zollten und in den schriftlich oder mündlich überlieferten Texten Reste des sonst nicht überlieferten germanischen Mythos vermuteten. Theodor Benfey weitete diesen Ansatz 1859 aufs Indogermanische aus, indem er Ursprung und entscheidende Formung der Märchen im alten Indien zu beweisen suchte. Seit 1900 wächst das wissenschaftliche Interesse sprunghaft und verzweigt sich zugleich in fast unübersehbar viele Richtungen. Neben der ,Finnischen Schule' mit ihren differenzierteren Forschungen zur Herkunft einzelner Märchentypen (vgl. die Reihe der ,Folklore Fellows Communications', Helsinki 1910ff.) sind der literaturwissenschaftliche Ansatz von der Leyens zu nennen, der die (Grimmschen) Texte als Kunstwerke auffaßt, die psychoanalytische Deutung durch Freud und seine Schule (z.B. Riklin, Rank) und die Archetypenlehre C. G. Jungs (z. B. Beit, v. Franz, Gutter), die naturmythische Theorie (Ph. Stauff), die sozial-, rechts- und allgemeinhistorischen Untersuchungen (z.B. Bloch, Woeller) sowie der Streit um die pädagogische Tauglichkeit (z. B. Richter/Merkel, Bettelheim). Dabei werden die Märchen meist nur als Materiallieferanten für vorgefaßte Thesen herangezogen. Die Formanalyse des Märchens hat durch Jolles und - mit beträchtlicher Verzögerung in der Rezeption - durch den Aufweis eines begrenzten Satzes semantisch-funktionaler Bauelemente und Verbindungsregeln bei Propp (1928; Aktant) entschiedenen Aufschwung erfahren (z. B. Dundes, Bremond). Eine philologisch und quellenkritisch abgesicherte Märchenforschung ist nach vereinzelten Vorarbeiten (Wesselski u. a.) umfänglich erst seit den genauer verfahrenden Arbeiten zu den Grimmschen Märchen (Lüthi, Röhrich, Rölleke) zu konstatieren.