ZWEITER GESANG
von Hans Magnus Enzensberger
Der Aufprall war federleicht. Der erste Funkspruch:
00.15 Uhr. Mayday. An alle. Position 410 46' Nord
50014' West. Fabelhaft, dieser Marconi!
Ein Ticken im Kopf, in der Muschel, drahtlos
und fern, so fern- ferner als ein halbes Jahrhundert!
Keine Sirenen, keine Alarmglocken, nur
ein diskretes Klopfen an der Kabinentür,
ein Hüsteln im Rauchsalon. Während unten
das Wasser steigt, bindet der Steward
einem ächzenden alten Herren, Werkzeugmaschinen
und Metallurgie, auf dem D-Deck die Schnürsenkel zu.
Nur Mut! Nur keine Müdigkeit, meine Damen,
Galopp! ruft der Gymnastikleherer, Mr. McCawley,
tipptopp wie immer in seinem beigen Flanellanzug,
durch die getäfelte Turnhalle. Lautlos schaukeln
die mechanischen Dromedare auf und ab.
Niemand ahnt, daß der Unermüdliche magenkrank ist,
daß er nicht schwimmen kann, daß er sich fürchtet.
John Jacob Astor hingegen schlitzt mit der Nagelfeile
einen Rettungsring auf und zeigt seiner Frau,
einer geborenen Connaught, was drin ist
(vermutlich Kork), während in den Laderaum vorn
armdick das Wasser strömt, eisig
unter den Postsäcken gurgelt, in die Kombüsen
sickert. Wigl wagl wak, spielt die Band
in schneeweißer Uniform, my monkey:
ein Potpourri aus der `Dollarprinzessin´.
Auf ins Metropol! Berlin, wie es leibt und lacht!
Nur ganz unten, wo man, wie immer, zuerst kapiert,
werden Bündel, Babies, weinrote Inletts
hastig zusammengerafft. Das Zwischendeck
versteht kein Englisch, kein Deutsch, nur eines
braucht ihm kein Mensch zu erklären:
daß die Erste Klasse zuerst drankommt,
daß es nie genug Milch und nie genug Schuhe
und nie genug Rettungsboote für alle gibt.
Meine Reaktionen zum Zweiten Gesang
Zur Fortsetzung: APOKALYPSE