Die heutigen Vorstellungen von Kommunismus und Kapitalismus in Rußland
TASS Gebäude, Moskau |
Ein Thema, das in ein
paar Geschichten vorkommt, ist Kapitalismus und
Kommunismus. Die fünfte Geschichte handelt zum Beispiel
von einer Pförtnerin des TASS-Gebäudes. Die Pförtnerin
Anna Gawrinina arbeitet schon seit zehn Jahren dort. Die
Geschichte fängt mit einem friedlichen Bild an. Anna
sitzt und hört klassische russische Musik an und liest
Gogol, den sie am liebsten hat. Sie ist eine fleißige
Arbeiterin. "Eher löste sich Anna Gawrinina in ein
Nichts auf, als daß ein Unbefugter die Pforte
passierte
" (S. 39) Sie gibt sich auch viel
Mühe hilfsbereit und eine gute Gastgeberin zu sein. Wir
erfahren, daß Anna Gawrinina niemals Geschenke annimmt.
Die anderen Arbeiterinnen machen es schon, aber für Anna
Gawrinina ist es genug, ihre Arbeit gut zu machen und
ihre Freizeit mit Musik und Gogol zu füllen. Aber eines Tages bekommt sie ein Geschenk. Es ist ein kleines Fläschlein Parfum. Schulze schreibt: "Was sie jetzt sah, hatte sie noch nie gesehen. Oder sie hatte es vergessen." (S. 41) Sie kann es kaum glauben und wartet,erstaunt, bevor sie es endlich probiert. Dann versank sie "in dem Duft und hörte, die Augenlider nahezu geschlossen, ein Lied, an das sie sich jetzt nach langer Zeit wieder erinnerte." (S. 41) Sie denkt, "manchmal ist das Leben schön!" Dieser Moment ist ihr Glücksmoment. Aber er dauert nicht. Der Fotograf, ein Mitarbeiter von ihr, kommt und versucht das Fläschlein zu klauen, aber Anna Gawrinina paßt auf und die beiden fangen an zu kämpfen. Der Direktor kommt und macht mit. Am Ende wird das Fläschlein zerbrochen und Anna Gawrinina sinkt in Ohnmacht und muß nach Hause gebracht werden. Sie kommt nie wieder zur Arbeit und bleibt verschwunden. |
Anna Gawrinina ist eine gute Sozialistin. Ihre Arbeit ist ihr Leben. Sie ist keine Materialistin und merkt schon, wie die anderen Arbeiterinnen verdorben werden, indem sie Geschenke akzeptieren. Aber in diesem Moment, als sie das Parfum bekommt, erlebt sie das Glück und auch sie genießt etwas Materialistisches. Hier wird die Sozialistin Kapatalistin, und was folgt ist, daß sie ins Nichts verschwindet. Aber ich sehe nicht den Materialismus als Grund ihres Falls. Das Parfum hat sie wirklich glücklich gemacht. Es ist nur, daß die Menschen nicht wissen, wie sie handeln sollen. Es ist nicht die Schuld des Parfums, sondern die Schuld des Fotografen und des Direktors. |
In der neunten Geschichte geht es um die Gewalt und die Alltagsbrutalität in Rußland. Ein älteres Ehepaar geht spazieren und sie verweilen auf dem schwarzen Markt zwischen Geldwechslern und Waffenhändlern. Sie handeln und wählen eine junge Waffenhändlerin aus. Sie bieten ihr an, sich mit ihnen am Newski zu treffen, um ihre Waren zu betrachten und um zu entscheiden, was sie kaufen wollen. Aber am Ende verstehen wir, daß das Ehepaar die Händlerin umbringen wollte. Diese Handlung ist immer ein Teil ihrer Spaziergänge, ihrer "Patrouille". Sie benutzen Gewalt gegen Gewalt und kämpfen gegen die neue Form von brutaler Kriminalität, die zuerst nach dem Fall des Kommunismus in Rußland erschienen ist.
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Der Held wird
aber gerettet als seine Mitkämpferinnen Mitja
erschießen. Jetzt folgt eine quasi-realistische
chaotische Szene, in der viel zerstört und viele
getötet werden. Was diese Geschichte über das Thema
Kommunismus und Kapitalismus sagt, ist folgendes: Früher
gab es solche Szenen nicht in Rußland, aber es wurde
auch nicht als eine Möglichkeit präsentiert. Obwohl
Schulze diese Szene in einer bewußt übertriebenen Weise
beschreibt, sollten wir nicht vergessen, daß solche
Dinge doch passieren. *(note) Solche Gewalt, wie sie hier gezeigt wird und
auch in der neunten Geschichte beschrieben wird, ist das
Produkt des beuen Kapitalismus. *** |
In diesen drei Geschichten sind die
Auswirkungen des Kapitialismus als negativ dargestellt.
Besonders wird der neue Aspekt einer vorher nicht so
erfahrenen Brutalität gezeigt. Korruption und
Materialismus scheinen auch Hand in hand zu gehen. Die
dreiundzwanzigste Geschichte besteht aus einem Gespräch
zwischen zwei Mafiosos und in der 27. Geschichte werden
auch die Kurzgeschorenen oder die neuen
Russen erwähnt. In Rußland sind diese Nachteile des
Kapitalismus für viele ein großes Problem, die früher
daran gewöhnt waren, ohne Angst zu leben und jetzt eine
Nostalgie danach haben. *****
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"Wie kann man nur so reden. Wie kann man so blind sein! Es ist nicht meine Art, lange Reden zu halten, ich bin ein einfacher Arbeiter Wie kann das organisiert werden, daß zwei Komma acht Millionen Menschen zusammenleben? Eine gigantische Aufgabe. Aber unsere Gesellschaft stellt sich ihr, sie verschließt nicht die Augen vor den Problemen. Ja mehr noch, sie ist für jeden von euch da. |
Vielleicht
denkt ihr gar nicht mehr daran, daß es in eurer Wohnung
warm ist.
Da seid ihr noch keine fünf Minuten
wach und habt euch gerade mal aus dem Bett erhoben, aber
nehmt schon tausendfach die Leistungen der Gesellschaft
in Anspruch - als müßte das so sein. Und weil ich kein
subjektiver Idealist bin, muß ich korrigierend
ergänzen: Selbst wenn ihr schlaft, nehmt ihr die
Leistungen der Gesellschaft in Anspruch.
Ein
Beispiel: die Wärme
Begreift ihr, welch unendliche
Arbeit, welch unendliche Sorgen und Mühen damit
verbunden sind? Nur die Gesellschaft ist in der Lage, das
zu lösen. Und dabei habe ich mir nur ein Beispiel unter
Abertausenden herausgegriffen.
Alles bei uns ist
so organisiert, daß die Produkte aus der Landwirtschaft
und der Industrie die Menschen erreichen, für die sie
gemacht sind. Jeder hat zu essen und zu trinken.
Aber trotzdem gibt die Gesellschaft euch alles. Dabei
sage ich nichts Neues, und als ich hierherkam, habe ich
es nicht für möglich gehalten, daß es notwendig sein
würde, solch einfache Dinge zu erklären. Ich dachte,
wir wären schon weiter und könnten uns der nächsten
Etappe zuwenden." (S. 177-180)
Die Kommunistin in der 25. Geschichte hält auch so eine Rede (S.196-198), und der Erzähler behandelt sie herablassend und nimmt sie nicht ernst. Dieses Bild, das Schulze von den Leuten malt, stimmt auch im heutigen Rußland.
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Vladimir |
Leute wie die
Kommunisten haben Nostalgie, eine Sehnsucht nach der
Vergangenheit und reden noch heute so wie die Propaganda
von einst. Sie sehen, was schlimm ist und wollen zurück.
Sie können sich nicht daran erinnern, was damals schlimm
war, und sie könnnen nicht das sehen, was heute gut ist. |
Neue Arbeit, Moskau 1998 - Feiern zum 850 Geburstag der Stadt |
Die 21. Geschichte enthält ein Gespräch zwischen einem alten Lehrer und seinem jüngeren Studenten/Verliebten, das die neue Situation spiegelt. Sie sprechen von Hoffnung und Ermutigung. Der Alte hat keine Kraft mehr. Der Junge sagt ihm: "Wenn ich dir zuhörte, in der Uni und danach, dann erschien mir alles auf dieser Welt verständlich, und ich glaubte zu wissen, wie man zu leben hat." Aber jetzt ist die Welt verändert, und der Alte kann sich nicht daran gewöhnen, sich nicht in die neuen Umstände finden. Er hat keine Nostalgie wie die Kommunisten, aber er ist psychologisch müde, erschöpft, resigniert. Der Junge versucht, ihn zu ermutigen. Er will immer weitergehen, immer arbeiten, immer spielen. Am Ende kann der Alte auch das Schachspiel nicht mehr zu Ende spielen. Er will einfach nicht mehr spielen. Die Hoffnung aber bleibt mit diesem Jungen. |