1888

Nach dem Tod Kaiser Wilhems I. (Ausrufung zum Deutschen Kaiser 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles) besteigt sein den Liberalen zuneigender, aber schwerkranker Sohn als Kaiser Friedrich III. (vermählt mit Viktoria, der ältesten Tochter von Königin Viktoria von Großbritannien und Prinzgemahl Albert von Coburg, Gegenerin Bismarcks) den Thron, stirbt schon nach drei Monaten, so daß eine Generation übergangen wird. Ihm folgt sein Sohn als Kaiser Wilhem II.

1890

Bismarcks Entlassung erfolgte hauptsächlich wegen des persönlichen Gegensatzes zwischen dem alten Kanzler, der seine Machtstellung behaupten will, und dem nach dem "perönlichen Regiment" strebenden jungen Kaiser. Politische Probleme (Sozialpolitik, Sozialistengesetz, Bismarcks bis zu Staatsstreichüberlegungen gehendes Kampfprogramm gegen Reichstag und Sozialdemokratie) treten demgegenüber zurück,
"Der Lotse verläßt das Schiff", Karikatur von Sir John Teniel aus dem «Punch»   Wilhelm II., Gemälde von Max Kroner, 1890

Das Zeitalter Kaiser Wilhelms II. (1890-1914)

In der Phase der Hochindustrialisierung, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, volzzieht sich der Übergang Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat, im Jahr 1895 zieht der industrielle Anteil der Erwerbstätigen mit dem land- und forstwirtschaftlichen gleich.Die Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens (Verdreifachung 1851-1913) ist in den beiden Jahrzehnten um die Jahrhundertwende am stärksten und wird zwischen Reichsgründungund Erstem Weltkrieg von einer Vervierfachung der Ausfuhr sowie einer Versechsfachung der Industrieproduktion begleitet. Damit ist der Aufstieg in die Gruppe der drei größten Industrienationen (neben USA und Großbritannien) gegeben, der primär auf dem Verbund von Kohle und Eisen (die deutsche Roheisen- und Stahlherstellung erreicht je etwa ein Viertel der Weltproduktion), bald aber auch auf der raschen Expansion von Elektrizität und Chemie als der "jungen" Industrien beruht. Die Zahl der Aktiengesellschaften, 1886 bereits 2143, steigt bis 1913 auf 5340 an, und noch rascher nimmt das Nationalkapital auf 16,1 Milliarden zu (4,9 Mrd. eingezahltes Kapital waren es 1886). Die wachsende Tendenz zur Betriebsvergrößerung (Steigerung der durchschnittlichen Beschäftigtenzahl je Betrieb 1871-1914 in Industrie und Handwerk um über 100%) verändert soziale Strukturen -- augenfällig u.a. im Vordringen von Großunternehmen (einschließlich Versandhäusern), Filialbetrieben und Konsumgenossenschaften gegen die kleinen Einzelhandelsgeschäfte, also gegen den "alten" Mittelstand. Großbetriebe, entstehend aus Vereinigung gleichartiger Werke (horizontale Konzentration) bedeuten außerdem eine Machtballung von (auch) politischer relevanz. Dem Ausbau des Verkehrswesens (im Innern die Verdichtung des Eisenbahnnetzes, das fast vollständig in staatliche Hand, jedoch kaum die des reichs, gerät) entspricht die -- nach 1900 besonders starke -- Expansion des Außenhandels von 7.3 (1891) auf 17,8 (1911) Mrd. Mark. Überseeische Auslandsmärkte werden übrigens hauptsächlich in den angelsächsisch beherrschten Gebieten Asiens, Afrikas und Amerikas gesucht, kaum in den für die deutsche Volkswirtschaft bedeutungslosen Kolonien (Schutzgebieten) des Reichs.

Industrieller Aufstieg und wirtschaftliche Konzentration vollziehen sich vor dem Hintergrund eines stürmischen Bevölkerungswachstums (1871-1910 um 58% auf 65 Mio.) und einer raschen Verstädterung: Der Anteil der Stadtbevölkerung steigt von 36% (1870) auf 60% (1910), die Zahl der Großstädte auf 48 (Berlins Einwohnerzahl steigt auf 2, mit Vororten 3,7 Mio.). Neben der großen Zahl der Lohnarbeiter beginnen die Angestellten aufzusteigen. Die Arbeiterfrage (organisierter Klassenkampf), das Mittelstandsproblem ("alter", d.h. gewerblicher, und "neuer", d.h. Angestellten-Mittelstand) und die Besorgnisse der Landwirtschaft ("Landflucht", Preisstützung, Betriebsgrößenstruktur) wirken sich in vielfältigen innenpolitischen Spannungen und Orginasitionsbildungen aus. Die unbestreitbaren Vorteile des industriellen Aufstiegs auch für breitere Schichten (Volksvermögen 1913 auf ca. 270-310 Mrd. geschätzt bei jährlichem Zuwachs von 3-4 Mrd., Sparkasseneinlagen 1880-1913 auf 16,8 Mrd. verzehnfacht, Abnahme des Bevölkerungsanteils unterhalb des steuerpflichtigen Mindesteinkommens von 70% [um 1890] auf 40% [1913]) können die sozialen gegensätze freilich nur mildern, die sich v.a. in der Kluft zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum zeigen. Zwar wird die (im Vergleich zu den Verhältnissen vor der Hochindustrialisierung) relative verbesserung des lebensbedingungen in der Industriearbeiterschaft begleitet von einer Hinwendung der SPD, insbesondere aber der gewerkschaften, zum pragmatischen Durchsetzen realisierbarer Forderungen, doch kann die staatliche Sozialpolitik -- in dieser Zeit ein Vorbild für alle Industrienationen -- keinen Ausgleich zwischen Arbeiterschaft und monarchischem Obrigkeitsstaat herbeiführen. Das Festhalten an vielfach als arbeiterfeindlich empfundenen Regelungen wie der Einschränkung des Koalitionsrechts und dem preußischen Dreiklassen-Wahlsystem trägt vielmehr zur Entfremdung bei, obgleich die Integrationsmittel des Kaiserreichs wie der Einfluß des Militärischen und das Nationalgefühl nicht nur auf Adel, Bauern- und Bürgertum wriken. Versuche, diese innenpolitisch-gesellschaftlichen Spannungen nach außen abzuleiten oder doch außenpolitisch zu überspielen, gehören zu den wesentlichen Merkmalen des Zeitalters des Imperialismus.

Der Wandel in Wirtschaft und gesellschaft bewirkt den fast ununterbrochenen Anstieg der sozialdemokratischen Wählerstimmen auf schließlich über ein Drittel, womit die SPD, trotz der Benachteiligung der großstädtischen Wähler durch die Wahlkreiseinteilung, schließlich die stärkste Reichstagsfraktion stellt. Diese Verschiebung wird möglich vor allem durch Rückgang der Nichtwähler von 49% 91871) auf 16% (1912) der Wahlberechtigten. Parallel steigt die Mitgliederzahl der sozialistisch orientierten freien Gewrkschaften (1890: 100 000; 1900: 690 000; 1910: 2 Mio.), neben denen die linksliberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine und die christliche Gewerkschaftsbewegung keine vergleichbare bedeutung gewinnen können. unter den für das wilhelminische Zeitalter typischen, politisch wirksamen Interessenverbänden ist der mit der Deutschkonservativen partei verflochtene Bund der Landwirte (162 000 Mitglieder im Gründungsjahr 1893, 330 000 Mitglieder 1913) der einflußreichste, daneben u.a. der schon 1876 gegeründete Centralverband Deutscher Industrieller, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband (Gründung 1893) und der 1909 gegründete Hansabund. Daneben stehen Agitationsvereine wie der Alldeutsche Verband (Gründung 1894), die 1887 entstandene Deutsche Kolonialgesellschaft und der 1898 ins Leben gerufene Deutsche Flottenverein.

Der tiefgreifende Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft scjafft wachsende probleme für eine Politik, die auch unter Wilhelm II. bestimmt wird von den Machteliten des Hofs, der Armee und der Bürokratie, den agrarischen Führungsschichten v.a. Preußens mit seiner verfassungsmäßigen Sonderstellung und durch das oft getrübte Bündnis des Agrariertums mit der Schwerindustrie. Schwierigkeiten entstehen nicht nur aus Interessengegegnsätzen zwischen Industrie und Landwirtschaft sowie der Heterogenität jeder Mehrheitsbildung im Reichstag, sondern auch aus der Verfassungslage, z.B. der fehlenden Finanzhoheit des reichs und seinen unzureichenden Einnahmequellen im Vergleich zu den wachsenden Aufgaben und der Rüstung. Als besonders problematisch erweist sich, daß im Zentrum der Exekutive nicht mehr der in vielen Fragen kompetente, einflußreiche Reichsgründer die Fäden in der hand hält, sondern daß sich z.T. widerstreitende Einflüsse und Zielsetzungen (Kaiser, kanzler, Staatssekretzäre, preußische Minister, militärische Stellen, Höflinge, außerhalb der verantwortung stehende Ratgeber und Interessenverbände) überkreuzen und das -- zumal in den auswärtigen Beziehungen -- verhängnisvolle Schwanken der deutschen Politik dieser Zeit verursachen, welches die persönlichen Eingriffe des Monarchen noch verstärken; dieses "persönliche regiment" Wilhelms II. wird zum Charakteristikum der Epoche.