Inhaltsangabe
Das Eingangskapitel des Romans beschreibt eine Deutschstunde des Gymnasialprofessors Raat in seiner Untersekunda. Doch bevor sich die turbulente Unterrichtsszene entfaltet, umreißt der Erzähler bereits im ersten Satz das Daseinsproblem der Titelgestalt: "Da er Raat hieß, nannte ihn die ganze Stadt Unrat. Nichts konnte einfacher und natürlicher sein." (5) Die ganze Stadt macht sich lustig über den Professor, dessen Name ihm in den 26 Jahren seines Schuldienstes zum Fluch geworden ist. Auf die provozierende Nennung seines Spottnamens reagiert er gleichsam automatisch:
Und sofort zuckte der Alte heftig mit der Schulter, immer mit der rechten, zu hohen, und sandte schief aus seinen Brillengläsern einen grünen Blick, den die Schüler falsch nannten, und der scheu und rachsüchtig war; der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der in den Falten der Mäntel nach Dolchen späht." (5)
So wild sich Unrat auch gebärdet, er erscheint dennoch als eine eher mitleiderregende und hilflose Gestalt:
"Sein hölzernes Kinn mit dem dünnen, graugelben Bärtchen daran klappte herunter und hinauf. Er konnte dem Schüler, der geschrien hatte, nichts beweisen' und mußte weiterschleichen auf seinen mageren, eingeknickten seinen und unter seinem fettigen Maurerhut." (5)
Charakteristisch für Unrat war sein Verhalten nach seinem 25-jährigen Dienstjubiläum: Einige Schüler hatten auf altbewährte Weise seine Ansprache gestört. ("Da ist Unrat in der Luft.") Zwar konnte er nicht den Beweis erbringen, daß die Schüler nicht tatsächlichen "Unrat" meinten, aber durch ihre Nichtversetzung am Schuljahrsende konnte Unrat seine Rachegelüste schließlich doch befriedigen.
Die im ersten Kapitel beschriebene Deutschstunde beginnt mit einer Verzweiflungstat des Schülers von Ertzum - von Ertzum und sein Freund Kieselack gehören zu den Schülern, die aufgrund der Jubiläumsstörungen nicht versetzt wurden. Nun, an diesem spätherbstlichen Schulvormittag etwa ein Jahr später, brüllt von Ertzum "in einem Anfall von schwerfälliger Verzweiflung" den Spottnamen Raats aus dem Fenster. Unrat, innerlich "frohlockend", von Ertzum erkannt zu haben und ihm diesmal die beleidigende Absicht auch "beweisen" zu können, verkündet, in das Katheder gekrallt" und "mit begrabener Stimme", daß er sich beim Direktor für von Ertzums Schulverweis einsetzen werde. Gehässig bezeichnet er den Schüler nicht nur als den "schlimmsten Abschaum der Gesellschaft". Im Hochgefühl der erfolgreicher Rache brüstet er sich sogar damit, bereits den Onkel von Ertzums in seiner beruflichen Karriere nachhaltig behindert zu haben: "Mein Urteil über ihre Familie, von Ertzum, steht seit 15 Jahren fest." (8) Unrats Verhalten erfüllt wiederum die Schüler mit Abscheu: Schon vor Beginn seines Auftritts "sahen sie ihrem Ordinarius zu wie einem gemeingefährlichen Vieh, das man leider nicht totschlagen durfte". (7)
Nachdem Unrat, speichelspritzend vor Zorn, den Schüler von Ertzum ins "Kabuff" - also in die finstere Garderobe der Klasse - befohlen hat, beginnt er seinen regulären Deutschunterricht "stöhnend vor Erleichterung". Doch auch jetzt geht es ihm vor allem darum, seine Schüler "hineinzulegen". Er stellt das Thema eines Aufsatzes über Schillers "Jungfrau von Orleans" so, daß die Schüler in eine Falle laufen müssen. Obwohl im Stück Schillers nur zwei Gebete des Dauphins erwähnt werden, sollen sie sich mit dem dritten Gebet auseinandersetzen. Die Schüler sind an die absurde Marter des Deutschaufsatzes bereits gewöhnt:
"Über Gegenstände, von deren Vorhandensein man nichts weniger als überzeugt war, etwa über die Pflichttreue, den Segen der Schule und die Liebe zum Waffendienst, eine gewisse Anzahl von Seiten mit Phrasen zu bedecken, dazu war man durch den deutschen Aufsatz seit Jahren erzogen. Das Thema ging einen nichts an; aber man schrieb." (9f)
Während die Schüler, selbst der Klassenprimus Angst, an dieser unlösbaren Aufgabe verzweifeln, unterbricht der Erzähler seine Schilderung der Unterrichtsstunde und schiebt eine längere Reflexion über Unrat ein, dessen Unterricht eher geeignet ist, den Schülern den Zugang zur Literatur zu versperren als zu eröffnen:
"Man hatte sie [die Jungfrau von Orleans] vor- und rückwärts gelesen, Szenen auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa zurück in Verse. Für alle, die beim ersten Lesen Schmelz und Schimmer auf diesen Versen gespürt hatten, waren sie längst erblindet." (10)
Zwar benutzt Unrat den Jargon der Schüler, dennoch hat er keinerlei Verständnis für die Bedürfnisse der Heranwachsenden. Er besitzt die nötige Distanz des Pädagogen weder zu seinen Schülern noch zu seiner eigenen pädagogischen Tätigkeit:
"Da er sein Leben ganz in Schulen verbracht hatte, war es ihm versagt geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Perspektive des Erfahrenen zu schieben. Er sah sie so nah wie einer aus ihrer Mitte, der unversehens mit Machtbefugnissen ausgestattet und aufs Katheder erhoben wäre." (11)
So fehlt ihm jede Überlegenheit, jeder Humor und jedes Maß beim Umgang mit seinen Schülern:"Wenn er strafte, tat er es nicht mit dem überlegenen Vorbehalt: ,Ihr seid Rangen, wie's euch zukommt, aber Zucht muß sein'; sondern er strafte im Ernst und mit zusammengebissenen Zähnen." (11)
Schule und Leben sind für ihn eins, und in der Schule ist kein Platz für "Nebendinge", also für nichts, was nicht unmittelbar zum Ernst des schulischen Lebens gehört. Und so wie ein "Selbstherrscher" die "Umstürzler" in die Strafkolonie schickt, so schickt Unrat die Schüler, die ihn "bei seinem Namen" genannt haben, ins Kabuff. Nach 26 Jahren Unterricht ist die Stadt freilich voll von solchen Schülern, und darum "[endete] die Schule [. . .] für ihn nicht mit der Hofmauer; sie erstreckte sich über die Häuser ringsumher und auf alle Altersklassen der Einwohner." (l1f.)
Während Unrat oben auf dem Katheder noch seine "vermeintliche" Sicherheit genießt, besinnt sich der Schüler Lohmann, der seinen Aufsatz sehr schnell zu Ende gebracht hat, auf den Vorfall zu Beginn des Unterrichts. Der 17jährige weiß sich seinen meist 2 oder 3 Jahre jüngeren Klassenkameraden an Intelligenz und Lebenserfahrung weit überlegen - "Er machte Heinesche Gedichte und liebte eine dreißigjährige Frau" (12) -, und auch Unrats heimtückisch-furioses Gebaren vermag ihn nicht einzuschüchtern. Unter der unverhohlenen Herablassung des Konsulsohnes, der ihn nicht einmal "bei seinem Namen" nennt, leidet Unrat mehr als unter jeder anderen Widersetzlichkeit aller anderen Schüler:
"Was wußte nun einem Lohmann der hölzerne Hanswurst dort auf dem Katheder für einen Eindruck zu machen; dieser an einer fixen Idee leidende Tölpel? Wenn Unrat ihn aufrief, trennte er sich ohne Eile von seiner der Klasse fernstehenden Lektüre, und die breite, gelbblasse Stirn in befremdeten Querfalten, prüfte er aus verächtlich gesenkten Lidern die ärmliche Verbissenheit des Fragestellers, den Staub in des Schulmeisters Haut, die Schuppen auf seinem Rockkragen. Schließlich warf er einen Blick auf seine eigenen geschliffenen Fingernägel." (13)
Nun fühlt sich Lohmann, der sich als Freund und Beschützer von Ertzums versteht, durch Unrats Ausfälle gegen von Ertzums Onkel persönlich herausgefordert. Mit seiner "vornehm gelassen" ausgesprochenen Feststellung "Es riecht auffallend nach Unrat" stürzt er Unrat in helle Panik. Da Unrat Lohmann jedoch nicht "beweisen" kann, daß dieser ihn persönlich diffamieren wollte, und da jetzt auch Kieselack dieses provozierende Wortspiel weitertreibt, vermag Unrat sich dieses "Gewaltstreichs" nur noch zu erwehren, indem er Lohmann ins Kabuff bugsiert. Lohmann läßt dies "gelangweilt", "peinlich berührt" und mit einem gewissen Ekel über sich ergehen: Er "staubte sich ab an der Stelle, wo Unrat ihn angefaßt hatte". (14) Unrats Entrüstung wächst noch, als er Lohmanns Abhandlung über das gestellte Thema liest. Lohmann hat Unrats Falle erkannt. Salopp und respektlos legt er dar, was es seines Erachtens mit der 3. Bitte des Dauphins auf sich hat: "Was soll er also noch erbeten haben? Suchen wir nicht lange: er weiß es selbst nicht. Johanna weiß es auch nicht. Schiller weiß es auch nicht". (15) Diese Unverfrorenheit bestärkt Unrat in seinem Streben, "diesen Schüler zu beseitigen, vor diesem Ansteckungsstoff die menschliche Gesellschaft zu behüten, das dränge weit mehr als die Entfernung des einfältigen von Ertzum." (15) Kurz vor dem Ende der Stunde entdeckt Unrat in Lohmanns Heft eine Eintragung über eine "Künstlerin Rosa", deren Inhalt hier vom Erzähler noch nicht wiedergegeben wird, die Unrat aber offenbar sehr berührt: "etwas wie eine rosa Wolke [überflog] die gewinkelten Wangen des Lehrers." (15)
Nach dem Mittagessen liest Unrat immer wieder Lohmanns "Huldigung an die hehre Künstlerin Fräulein Rosa Fröhlich". Nach dem fehlenden vierten Vers des anzüglichen Gedichts sucht Unrat so verzweifelt wie seine Schüler zuvor nach dem dritten Gebet des Dauphins. "Der Schüler Lohmann schien sich durch diesen Vers über Unrat lustig zu machen", und Unrat ist entschlossener denn je, Lohmann "hineinzulegen". Mit dem Vorsatz, "ihm zu zeigen, er selbst sei zuletzt doch der Stärkere" (17), begibt sich Unrat auf die Suche nach der Künstlerin.
Mit einem "giftige[n] Lächeln in den Mundfalten" (17) "schlich" Unrat durch die kalten und regennassen Straßen der Stadt, stets in Sorge, bei seiner Suche nach der Künstlerin in einen ehrenrührigen Verdacht zu geraten angesichts der "Klatschsucht" der "tiefstehenden, in den humanistischen Wissenschaften unerfahrenen Bürger" (18). Er will Lohmann "fassen" und den Beweis erbringen, daß von Ertzum und Kieselack, die ihn bei seinem Namen" nennen, "auch jeder anderen Unsittlichkeit fähig" sind. Vor Jahren mußte sich Unrat von seinem eigenen Sohne trennen. Dieser, ein schulischer Versager, der noch nicht einmal die Examensprüfung bestanden hatte, hatte sich "mit zweideutigen Frauenzimmern" abgegebenund ihn, seinen eigenen Vater, "bei seinem Namen" genannt. Der Sohn entstammte im übrigen der Ehe mit einer inzwischen verstorbenen Witwe, die "knochig und streng gewesen war" (18), und die Unrat "vertragsgemäß" ehelichen mußte, weil sie sein Studium finanziert hatte.
In den stürmischen, steilen und engen Straßen bewegt sich Unrat wie im Feindesland: "er litt unter der Besorgnis des Herrschers, der sein Gebiet verlassen hat: man möchte ihn verkennen, ihm aus Unsicherheit zu nahe treten, ihn nötigen, sich als Mensch zu fühlen." (19) In seiner Aufregung stellt er sich dem Kassierer des Stadttheaters vor als "der Professor Un- der Professor Raat" (20). Nach allen linkisch fehlgeschlagenen Versuchen, Auskunft über die Künstlerin Rosa Fröhlich zu erhalten, vermag er nur noch kopflos die Flucht zu ergreifen - "sein Lächeln war verzerrt vor Angst vor dem Verfolger". (21)
Die nächste Station seiner Suche ist der Hafen. Im Büro eines Heuerbaas, der Matrosen an Schiffskapitäne vermittelt, benimmt er sich wiederum so schulmeisterlich ungeschickt, daß er das Gelächter der Matrosen und den Zorn des Heuerbaas erregt und beinah hinausgeworfen wird. Da mit diesem niederen "Volk [...] keine Verständigung möglich [war]" - so "zensierte Unrat das Vorgefallene" -, späht er nun nach einem bekannten und verheißungsvolleren Gesicht aus. Doch es grinst ihn nur, "erschrecklich" und "höhnisch", ein ehemaliger Schüler an, dem Unrat noch vor gar nicht langer Zeit mit der Betonung lateinischer Verse das Leben schwer gemacht hat. Plötzlich brechen die spöttischen "Unrat"-Rufe von Bürger- und Volksschülern über ihn herein, bis zu denen sich sein Name herumgesprochen hatte. Bewußt meidet Unrat den Laden eines Tabakhändlers, obwohl er von diesem vielleicht Auskunft erhalten könnte: Es fällt ihm ein, daß "der Mann da drinnen [.. .] " ein ehemaliger widersetzlicher Schüler war, den er leider nicht mehr "fassen" konnte (25). Die ganze Stadt scheint aus Schülern zu bestehen, die Unrat den Respekt versagten und die es noch "hineinzulegen" gilt. Inmitten dieser feindlichen Welt respektloser Bürger nimmt Unrats Ängstlichkeit wahnhafte Züge an:
"Er schlich an den Häusern hin mit einem gespannten Gefühl oben auf dem Scheitel, denn jeden Augenblick konnte wie ein Kübel schmutziges Wasser, den jemand ihm über den Kopf gegossen hätte, aus einem Fenster sein Name fallen! Und da er ihn nicht sah, vermochte er den Schreier nicht zu ,fassen'! Eine empörte Klasse von fünfzigtausend Schülern tobte um Unrat her." (26)
In der "abgelegenste[n], tiefste[n] Gegend" der Stadt und erfüllt von ohnmächtigem Haß steigt in Unrat die Ahnung auf, daß seine allgegenwärtigen Widersacher "etwas Übles aus ihm gemacht [...] hatten" (27). Dabei, so gibt der Erzähler zu bedenken, sei die Stadt Unrat durchaus nicht bloß mit Heimtücke begegnet, sondern gelegentlich nur mit Gleichgültigkeit und manchmal gar mit Wohlwollen. Der Erzähler gibt ein Gespräch von Stadtbewohnern wieder:
" ,Als Hilfslehrer war er noch 'n ganz adretter Mensch.',So? Was der Name tut. Ich kann ihn mir überhaupt nicht sauber vorstellen.',Wissen Sie, was ich glaube? Er sich selber auch nicht. Gegen so'n Namen kann auf die Dauer keiner an.' " (27)
Unrat sieht sich "auf merkwürdige Weise aus den Schienen seines Tages herausgeworfen" (25). Plötzlich kommt ihm der Gedanke, bei der Künstlerin Rosa Fröhlich handle es sich um die seit längerem angekündigte "Barfußtänzerin". Er fühlt sich "vernichtet", weil er keine Karte mehr für die Abendvorstellung bekommt. Aber, einmal in "Jagdleidenschaft" geraten, ist es ihm nicht möglich, unverrichteter Dinge nach Hause zu gehen. Sein zielloser Weg durch die Stadt führt ihn vor das Haus des Schuhmachermeisters Rindfleisch, eines Herrnhuters, der gerade mit seiner Familie zu Abend ißt. Unrat hofft, daß dieser "rechtschaffene und harmlose" Mann ihm "anstandslos Auskunft erteilen würde" (28). Rücksichtslos spielt Unrat hier seine Autorität als Professor aus und beauftragt Rindfleisch zu schon feierabendlicher Stunde, ihm ein Paar neuer Stiefel anzumessen, um ihn dabei über die vermeintliche Barfußtänzerin Rosa Fröhlich auszuhorchen. Mit wachsender Ungeduld und Ablehnung begegnet Unrat dem Schuhmachermeister, der jedes Wissen um eine Barfußtänzerin leugnet und in überzogener pietistischer Sittenstrenge jegliche tänzerische Darbietung als "Sünde" verurteilt. Die "Fleischessünde" des ehelichen Koitus scheint ihm von Gott "nur darum erlaubt, auf daß er in seinem Himmel oben mehr Engelkriegt" (32). Unrat hat mit den moralischen Auffassungen Rindfleischs nichts gemein:
"Er verachtete Rindfleisch. Er verachtete die blaue Stube, die Enge dieser Geister, die demütigen Seelen, die pietistischen Überspanntheiten und die sittliche Verstocktheit." (33)
Zwar "errötete" er über das Verhältnis Lohmanns zu dieser Künstlerin, "weil er nicht anders konnte", doch seine Empörung über den "Verbrecher" Lohmann entspringt keineswegs "sittliche[r] Einfalt", sondern vielmehr dem quälenden Bewußtsein, daß sich dieser "bei verbotenen Früchten der harten Zucht des Lehrers entzog" (33).
Unrats ökonomischer Status ist vergleichbar mit der Situation des Schuhmachermeisters; auch bei ihm zu Hause "sah es eher dürftig aus". Aber Unrats Bewußtsein erhebt ihn über sein ärmliches Sein: "in seinem Kopf [hatte er] die Möglichkeit, sich mit mehreren alten Geistesfürsten, wenn sie zurückgekehrt wären, in ihrer Sprache über die Grammatik in ihren Werken zu unterhalten." (33)
"Er ging unansehnlich, sogar verlacht, unter diesem Volk umher - aber er gehörte, seinem Bewußtsein nach, zu den Herrschenden. Kein Bankier und kein Monarch war an der Erhaltung der Macht mehr beteiligt, an der Erhaltung des Bestehenden mehr interessiert als Unrat. Er ereiferte sich für alle Autoritäten, wütete in der Heimlichkeit seines Studierzimmers gegen die Arbeiter - die, wenn sie ihre Ziele erreicht hätten,wahrscheinlich bewirkt haben würden, daß auch Unrat etwas reichlicher entlohnt wäre. Junge Hilfslehrer, noch schüchterner als er, bei denen er sich mit der Sprache herauswagte, warnte er düster vor der unseligen Sucht des modernen Geistes, an den Grundlagen zu rütteln. Er wollte sie stark: eine einflußreiche Kirche, einen handfesten Säbel, strikten Gehorsam und starre Sitten. Dabei war er durchaus ungläubig und vor sich selbst des weitesten Freisinns fähig. Aber als Tyrann wußte er, wie man sich Sklaven erhält, wie der Pöbel, der Feind, die fünfzigtausend aufsässigen Schüler, die ihn bedrängten, zu bändigen waren." (33)
Schließlich ist Unrat wieder in seine Wohnung gelangt, wo er jedoch nicht die Ruhe findet, sich auf seine philologische Arbeit über die "Partikeln bei Homer" (34) zu konzentrieren, sein "wichtiges Werk, wovon die Menschen nichts wußten". Der Gedanke an Lohmann und die plötzliche Eingebung, daß die Barfußtänzerin doch nicht den Namen Rosa Fröhlich trage, stürzen ihn erneut in "einsame[.] Erregung". "Auf verbotenen Wegen" schleicht er durch die mondhelle Nacht, um vor den Fenstern eines Lokals innezuhalten, in dem er die Silhouette des Oberlehrers Hübbenett entdeckt, "eines ganz schlimmen, der Unrat den Respekt versagte, weil er zur Lockerung der Disziplin in der Schule Anlaß gebe, und der sich über Unrats Sohn sittlich entrüstet hatte". (35) Der Gesellschaft dieser mit "Biereifer" redenden Honoratioren fühlt Unrat sich nicht zugehörig: "Da hockten nun die beisammen und waren in der Ordnung: er aber dünkte sich fragwürdig, gewissermaßen, und ausgestoßen, sozusagen." (35)
In der Kaiserstraße erkennt er vor dem vornehmen Haus des Konsuls Breetpoot seinen jungen Kollegen Oberlehrer Richter, dem Ambitionen nachgesagt werden, in eine reiche und elegante Familie einzuheiraten, "zu der sonst Oberlehrer nicht den Blick erhoben" (35).
"[Unrat] machte sich in seinem bespritzten Mantelkragen lustig über den wohlaufgenommenen, aussichtsreichen Menschen, wie ein höhnischer Strolch, der unerkannt und drohend aus dem Schatten heraus der schönen Welt zusieht und das Ende von alledem in seinem Geist hat, wie eine Bombe." (35f.)
Im Stillen prophezeit er seinem Kollegen wie sonst seinen Schülern, er werde ihn " - immer mal wieder - hineinlegen, merken Sie sich das!" (36)
Die bisher nur als Name in seine Vorstellungswelt getretene Künstlerin Rosa Fröhlich hat ihn, den "Indianer auf dem Kriegspfad", in eine "lüsterne Spannung" versetzt (36). Mit dem eigentümlich gemischten Gefühl von "Furcht und Kitzel" gelangt er zum zweiten Male in die Hafengegend. Hier folgt er unbemerkt zwei "Proletariern" zu dem Vergnügungslokal "Der Blaue Engel". Bis zum höchsten Grade erregt, studiert Unrat den Programmzettel an der Eingangstür, und "Auf einmal riß er sich los und stürzte sich in das Haus wie in einen Abgrund." (37)
Unrat findet sich nun an einem Ort, wo sich Dinge abspielen, die nicht in den Bereich der Schule gehören. Hier gilt Unrats Autorität als "Professor vom hiesigen Gymnasium" nichts. Seine an den Wirt des Lokals gerichtete Anweisung, den Schüler Lohmann herbeizuschaffen, wird von diesem mit der Bemerkung "Oll Dösbattel" unwirsch zurückgewiesen. Hilflos durch die Reihen des Publikums im Saale irrend, erscheint Unrat hier so lange als störender Fremdkörper, bis er sich selbst in die Menge der Zuschauer setzt: "Sogleich fühlte er sich in der Menge versunken, seiner drückenden Ausnahmestellung enthoben. Niemand achtete im Augenblick auf ihn." (39)
Aus dieser neuen Perspektive "dumpfe[r] Seligkeit", inmitten von Musik, Tabaksqualm, Alkoholdunst und Menschenleibern, nimmt Unrat nun erstmals die Künstlerin Rosa Fröhlich wahr. Vorne auf der Bühne erscheint sie ihm als "ein sehr stark bewegter Gegenstand, etwas, das Arme, Schultern oder Beine, irgendein Stück helles Eleisch, bestrahlt von einem hellen Reflektor, umherwarf und einen großen Mund dunkel aufriß". (39)
Der Gesang dieses "Wesens" erscheint als "Gekreisch", das sich gegen den Lärm des Klaviers und des Publikums behaupten muß. Unrat empfindet zunächst "Abscheu" gegenüber seinem Sitznachbarn, einem biederen beleibten Bürger, der ihm nicht einmal den Namen der Sängerin nennen kann. Zudem schätzt er die Kunst der Sängerin gering, die den Beifall des Publikums dadurch provoziert, daß sie ihren Rock hebt und gleichzeitig verschämt und mit vorgetäuschtem französischen Akzent singt: "Wail iesch noch so klain uhnd so uhnschuhldiesch bien." (40) Doch sehr schnell wandelt sich Unrat in dieser "Welt, die die Verneinung seiner selbst war" (40). Er fühlt sich nun angenehm berührt "von warmen menschlichen Ausdünstungen" (40). Waren zuvor nur die Gehirne der anderen Zuschauer und Zuhörer "von Musik in das Triebleben zurückgebannt" (39), so gerät nun auch Unrat in diesen Bann:
"Es befiel ihn eine große, unbedachte, nur schwer zu bändigende Lust, seine beiden Füße gleichzeitig gegen den Boden zu stoßen. Er war stark genug, es nicht zu tun. Aber die Versuchung erzürnte ihn auch nicht. Er lächelte heiter versonnen vor sich hin und stellte fest, das sei demnach denn wohl - der Mensch. ,Immer mal wieder - Gras fressen', setzte er hinzu. ,Ei freilich.' (41)
Aus dieser kurzen Phase der Entspannung wird Unrat jäh herausgerissen, als er das Gesicht Kieselacks wahrnimmt. Wiederum stiftet Unrat allgemeine Verwirrung: "in der schwindelnden Panik des Tyrannen" verfolgt er seinen Schüler, bis er unversehens in die Künstlergarderobe gelangt. Auch jetzt klammert sich Unrat zunächst verzweifelt an seine vermeintliche Autorität und droht der respektlosen Sängerin Rosa Fröhlich mit der Polizei. Doch als diese kontert, sie könne ihr "bekannte Offßiere" auf ihn loslassen, von denen er kurzerhand "verkeilt" würde (44), gibt sich Unrat schließlich geschlagen. Diese Künstlerin zählte nicht, wie alle anderen Bürger der Stadt, zu seinen ehemaligen, lebenslänglich zu disziplinierenden Schülern: "Sie war eine fremde Macht und augenscheinlich fast gleichberechtigt", und er empfand für sie sogar etwas "wie Achtung". (44)
Als nun das Schauspielerehepaar Kiepert von der Bühne zurück in die Garderobe kommt, läßt er sich ohne zu protestieren als "Lustgreis" beschimpfen und nimmt die wohlmeinende Fürsprache der Gattin des starken Kiepert hin: "Gott, man kriegt mal'n Rappel, das kommt vor. " (45) Kiepert wirbt für die Sozialdemokraten, die sich auch für eine bessere Besoldung der Lehrer einsetzten, und zählt Unrat versöhnlich zu seinesgleichen: Die Wissenschaft und die Kunst "kommen allemal aus demselben Käsegeschäft" (45f).
Bereitwillig gibt Unrat Auskunft über sein Alter - (57 J.) -, und dankbar läßt er sich seinen Maurerhut zurechtrücken. In dieser Welt, in der die Autorität seines Titels bedeutungslos war, "fühlte [er] sich [...] mit eigentümlicher Wärme angefaßt" (46). Da diesen Leuten "jeder Maßstab" fehle, gesteht er ihnen ihre "Respektlosigkeit" zu und sich selbst "die Lust [ ], von der Widersetzlichkeit der Welt einmal abzusehen, in seiner gewöhnlichen Gespanntheit nachzulassen - abzurüsten, sei es nur auf ein Viertelstündchen". (46)
Während nun das Artistenehepaar zum nächsten Auftritt die Garderobe verläßt, "schlich [Unrat] mit den Augen" durch den schmuddligen, in wüster Unordnung befindlichen Raum. Nun treten auch Rosas körperliche Reize als flüchtige erotische Signale in sein Bewußtsein. Er "machte die angstvolle Entdeckung, daß ihr zwischen den Maschen eines schwarzen Netzes blau hervorschimmerndes Seidenkleid nicht einmal bis unter die Achseln reichte und daß, sooft sie mit Nadel und Faden weit in die Luft fuhr, in der Höhle unter ihrem Arm etwas Blondes erschien". (48)
Rosas Bild ist vor allem geprägt durch die verwirrende "Buntheit" ihres geschminkten Gesichts, ihrer Kleidung und Frisur, wobei freilich die Spuren ihres Lebenswandels nicht zu übersehen sind: "Das schwach gerundete, leichte Fleisch ihrer Arme und ihrer Schultern kam einem abgegriffen vor." (48) Rosa bestätigt Unrats Vermutung, daß sich Lohmann bei der Künstlerin aufhält: "Einer ist da, der hat Pinke-Pinke." (50) Langsam und unbeholfen nähern sich Unrat und Rosa im Gespräch einander an. Unrat bemerkt, daß man Menschenkenntnis brauche, um sich die Menschen "dienstbar zu machen und, sie verachtend, über sie zu herrschen! " (49) Rosa pflichtet ihm bei, daß es eine "Kunst" sei, "aus dem Pack etwas rauszuschlagen!" (49) Unrat ist beunruhigt. Zum einen fühlt er sich bedrängt durch die stetig zunehmende körperliche Nähe Rosas - "Überdies befinden sich ihre Knie nun schon zwischen seinen eigenen" -, zum anderen bedrückt ihn die Vorstellung, daß "Lohmann, der Allerschlimmste, mit seiner unnahbaren Widersetzlichkeit" (50), auchhier als "unsichtbarer Geist" zugegen sein könnte. Unrat ist entschlossen, den Platz in der Garderobe gegen Lohmann zu behaupten: "Ging er, dann saß wieder Lohmann hier" (50). Mit einer kindlichen Schadenfreude und Genugtuung trinkt er Lohmanns Wein aus.
Inzwischen singen die "beiden dicken Leute im Saal" das kriegerische "Flottenlied", das auch in der Art seiner Darbietung jeglichen künstlerischen Wertes entbehrt - wie Rosa beklagt -, das aber dennoch eine sichere "Zugnummer" im Programm darstellt. Der Hinweis auf die Popularität des Flottenliedes erlaubt es, die Handlungszeit des Romans etwa auf die Hochzeit der deutschen Flottenbegeisterung zu Beginn des Jahrhunderts festzulegen.
Besessen von dem Ehrgeiz, Lohmann endgültig aus der Garderobe der Künstlerin Fröhlich zu verdrängen, will Unrat Rosa dazu bewegen, "die Wahrheit preis[zu]geben über den Schüler Lohmann". (52) Doch diese findet eher Gefallen daran, Unrat zu provozieren:
"Sie beugte unerwartet ihre Büste vor, tastete mit ganz leichten Fingern unter Unrats Kinn, auf die kahlen Flecken zwischen seinen Barthaaren, und machte einen Mund wie zum Saugen. ,Stellen Sie ihn mir vor, ja?'" (54)Unrat verabschiedet sich, als Rosas Auftritt beginnt. Beim Hinausgehen bemerkt er seine Schüler Lohmann, von Ertzum und Kieselack, der mit einer "Quetschstimme" den "sittlichen Unrat" beklagt, den es im "Blauen Engel" gebe. Unrats zugleich wütende und angstvolle Ankündigung, er werde das Geschehen am nächsten Tag zur Anzeige bringen, erwidert Kieselack mit der unverhüllten Drohung: "Wir auch!" (55)
Unmittelbar nach dieser Begegnung schleichen sich die drei Schüler ins "Kabuff", in die Künstlergarderobe des Blauen Engel. Lohmann wirft Kieselack vor, Unrat unnötig provoziert zu haben. Unrat sei "ja auch nur ein Mensch, und über seine Kräfte muß man ihm keine Gemeinheiten zumuten" (56). Er befürchtet, Unrat könne ihnen jetzt unangenehmen "Stank" machen. Während Kieselack dies prahlerisch abtut, kündigt von Ertzum an, daß er diesem "Vieh" Unrat "alle Knochen entzwei[brechen]" werde, sollte er noch ein einziges Mal die Garderobe der Künstlerin Fröhlich betreten (56). Der inzwischen von der Bühne gekommenen Sängerin offenbart Lohmann nun spöttisch von Ertzums Geheimnisse. In seiner leidenschaftlichen Liebe zu ihr sei dieser bereit, ihr "seinen Namen, eine glänzende Zukunft, ein Vermögen" zu opfern. Doch wäre auch von Ertzum selbst von "hinreichend einfachem Geist" (57), dies alles wirklich zu tun, so verhindere es doch dessen Vormund, Konsul Breetpoot, "dieser Bürger". (57)
Von Ertzum träumt davon, Rosa Fröhlich zu sich "emporziehen" zu dürfen, und er leidet darunter, daß sie ihre unschuldige "Reinheit" in dieser Umgebung und im Umgang mit so "schmutzigen Leuten" wie Unrat gefährden müsse. Der grobschlächtige Junker, der sich der Sängerin demutsvoll unterwirft - mit den Zähnen apportiert er ihr fettverschmiertes Taschentuch -, sehnt sich imGrunde in die kraftvoll-sinnliche Atmosphäre des Landlebens zurück, dem er in der Tiefe seiner Seele verhaftet ist. Rosa weckt seine Sehnsüchte, sein eigenes Seelenleben: "Darum tat er ihr die Ehre an, dies für ihre Ehre zu halten, ihr viel Seele beizulegen und sie sehr hochzustellen." (61)
Die Vorhaltung Rosas, daß nicht von Ertzum, sondern Lohmann selbst ihr zu nahe trete - "hinterrücks bedichten Sie einen in dreckiger Weise" (57) - trifft diesen nicht. Der Sohn eines begüterten Vaters sieht sich in dieser Umgebung doch "ohne persönliches Interesse und nur als ironische[n] Zuschauer" (58). Dem schlichten von Ertzum intellektuell weit überlegen, hält er auch seine Gefühle für einzigartig und für unvergleichlich: "Um sein, Lohmanns Herz, stand es wahrhaftig viel zu ernst, viel ernster, als man es je erfahren würde [...] Er machte sich einen Panzer aus Spott." (58) Lohmann verzehrt sich in der platonischen Liebe zur dreißigjährigen Gattin des Konsuls Breetpoot, wobei er freilich die Leiden und "wollüstigen Bitternisse" dieser unerfüllten Leidenschaft in narzißtischer Selbstverliebtheit auskostet. Die "Chanteuse des Blauen Engels" weiß er weit unter sich auf der gesellschaftlichen Stufenleiter. Gleichwohl "[es] gab Stunden, wo er dieses Mädchen zu seinen Füßen zu sehen wünschte, wo er sie begehrte, um seinen Liebkosungen den düsteren Geschmack des Lasters zu geben - und durch solch Laster seine eigene Liebe zu beschmutzen, in der auf den Knien bettelnden Dirne sie, Dora Breetpoot selbst, zu erniedrigen und dann vor ihr hinzusinken und köstlich zu weinen!" (63)
In größter Angst erwarten Lohmann, von Ertzum und Kieselack am nächsten Morgen das ihnen von Unrat angedrohte Strafgericht. Jedoch ignoriert Unrat merkwürdigerweise die Schüler völlig, so daß ihnen zumute ist, "als seien sie ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft, hätten schon den bürgerlichen Tod erlitten" (64). Als auch nach Unterrichtsschluß jedes Anzeichen einer bevorstehenden Bestrafung ausbleibt, ärgern sie sich über ihre Ängstlichkeit. Am Abend treffen sie sich wieder vor dem "Blauen Engel", hat sie die leere Drohung Unrats in ihrer Widersetzlichkeit doch noch bestärkt - Lohmann: "jetzt geh ich grade hin" (65). Kieselack, von Hause aus zwar mittellos, dafür aber von besonderer Dreistigkeit, muß wie immer seinen Kameraden vorangehen. Bestürzt erfahren sie nun von der Wirtin, daß "der Lehrer" bereits in der Garderobe sitzt.
Der Erzähler wendet sich nun noch einmal dem vorangegangenen Abend zu, um die neue Entwicklung der Dinge auch aus der Perspektive Unrats darzustellen. Unrat fühlt, zu seinem Manuskript über die "Partikeln bei Homer" zurückgekehrt, daß sein Leben nie wieder so sein könne, wie es einmal war, "solange Lohmann ungehindert bei der Künstlerin Fröhlich saß!" (65) Schamvoll erinnert er sich an Rosas "kitzelnden Blick" und an ihre neckische Berührung seines Kinns. Die Angst, daß seine Schüler dieses und anderes aus einem heimlichen Versteck beobachtet haben und ihn damit bei der Schulleitung belasten könnten, hindert ihn, seine Drohung gegen Lohmann, Kieselack und von Ertzum wahrzumachen. Unrat "ahnte nicht, was Kieselack und von Ertzum für Angst ausstanden; aber auch sie ahnten nichts von seiner". (66)
Die Verdrängung Lohmanns wird für ihn zu einer "Machtfrage", zu einer "Angelegenheit seiner Selbstachtung". Nur halbbewußt ist ihm die Erkenntnis, daß er Lohmann nicht nur verdrängen will, sondern daß er vielmehr "selbst [...] bei der Künstlerin sitzen" wollte (67). So sucht Unrat schon am frühen Abend den "Blauen Engel" auf, "um der erste zu sein im Kabuff" (67), in dem sich die Künstler noch nicht eingefunden haben. Unrat nutzt die Zeit, indem er Noten in sein Heft einträgt. Kieselack, von Ertzum und Lohmann erhalten die vorläufige Endnote "ungenügend" - "und Unrats Mund [war] gekrümmt von Rach-sucht". (68)
Von Guste Kiepert, die mittlerweile eingetreten ist, erfährt Unrat einiges aus Rosas Leben. Rosas Gutmütigkeit und "pure Menschenliebe" sei schon immer von übelwollenden Männern ausgenutzt worden. Unrats Eitelkeit geschickt berechnend, versucht sie, ihn ihrem ,Schützling' Rosa näherzubringen:"da muß doch'n genereeser Mann, der noch gut erhalten is und auch wirklich Herz hat für so'n Mädchen, der muß doch 'n bedeutend tiefern Eindruck machen, sag ich". (69)
Verlegen und gleichzeitig geschmeichelt, wehrt Unrat ab. Nun erscheint auch Rosa, erfreut, aber keineswegs erstaunt, Unrat wieder in der Garderobe anzutreffen; sie ist insgeheim entschlossen, Unrat an sich zu binden: Sie "lächelte von unten diebisch nach Unrat". (70) In dieser ihm noch fremden Halbwelt gerät Unrat unvermittelt in die Sphäre intimer Körperlichkeit. Er sieht nicht nur die beleibte Guste halbentblößt in ihrer Unterwäsche; er wird darüber hinaus genötigt, Rosa beim Umkleiden behilflich zu sein:
Unrat aber war es, als flüstere an seinem Ohr eine erste Offenbarung von Mysterien, bedenklichen Sachlagen unter der gut bürgerlichen Oberfläche, die sich vor den Augen der Polizei auf der Straße zeigt. Und er fühlte einen Stolz, der Angst enthielt." (73)
Mit Schrecken und Verzückung zugleich findet Unrat Rosas intimstes Kleidungsstück in seinen Händen - "es fühlte sich merkwürdig warm an, war wie ein Tier" (73) -, und Rosa gesteht ihm in wohlkalkulierter Freimütigkeit: "ich möcht wohl wissen, wie Sie mich gebaut finden?" (73) Der Gymnasialprofessor scheint vollends in ihren erotischen Bann geraten, wenn er sich widerspruchslos von ihr als "kleines Ferkel" bezeichnen läßt.
Da er Zeuge der Verwandlung Rosas vor dem Spiegel sein darf und "eingeweiht" wird in das Geheimnis, wie mittels Puder und Schminke "Schönheit, Lust, Seele" entstehen, fühlt sich Unrat als ein unter vielen Auserwählter. Bei Rosas anschließendem Bühnenauftritt bekommt Unrats neues Verhältnis zu Rosa deutliche Konturen. Da Rosa mit einem neuen und anspruchsvolleren Lied - Unrat ahnt nicht, daß Lohmann das Lied verfaßt hat - den Unwillen des Publikums erregt, gerät Unrat in Rage
:"Unrat fühlte, wie ihm schwindelnd seine Wut zu Kopf schoß, seine von Angst durchjagte Tyrannenwut. Die Künstlerin Fröhlich war seine Angelegenheit. Er hatte sie genehmigt, folgte aus den Kulissen ihren Leistungen, war mit ihr verknüpft und führte sie gewissermaßen selber vor! Man vergriff sich an ihm selbst, wenn man sich unterstand, sie nicht gelten zu lassen." (77)
Im Publikum, das ihm zur verachtungswürdigen "Gosse" wird, entdeckt er die "Widerspenstigen aus alten Jahrgängen". Verzweifelt wird ihm bewußt, daß er keine Macht hat über den Geschmack der verachteten Menge. Ohnmächtig in seinem "despotischen Trieb" "wand er sich unter der Begierde, so einen Schädel einmal aufzuschlagen und den Schönheitssinn darin mit krummen Fingern zurechtzurücken". (77)
Rosa selbst weiß sehr wohl, wie sie auf die Ablehnung der "Affen" (75) zu reagieren hat: sie paßt sich deren Erwartungen wieder an und gewinnt auch prompt Gunst und Applaus zurück, sobald sie ihr bekanntes, anzüglich-triviales Lied intoniert: "Wail iesch noch so klain uhnd so uhnschuhldiesch bin". Nach diesem eben noch ,geretteten' Auftritt fordert die ,unschuldige' Rosa Unrat recht ungeniert auf, doch Sekt und Kuchen für die Künstler zu bestellen. Unrat empfindet die größte Genugtuung "bei jedem Glas, das eingeschenkt ward: dies sei sein Glas, in diesem habe Lohmann nichts dreinzureden" (79), und wenig später "errötete [er] vor Befriedigung: denn die Künstlerin hatte Lohmanns Sträuße verbrannt". (80) In seinem tief empfundenen Triumph über Lohmann verspricht er Rosa, daß nur er selbst ihr künftig Geschenke machen und sogar Lieder für sie verfassen werde, damit sie nur nicht mehr Lohmanns Lied singe.
Unrat beendet das Zusammensein mit Rosa in höchster Glückseligkeit. Da Rosa ihm schluchzend gestanden hat, daß sich unter ihrer "glänzende[n] Außenseite" "nichts als graues Elend" verberge, gelobt er der schon schlafenden Künstlerin: "Ich werde versuchen, Sie durchzubringen." Der Erzähler weiß um die Einzigartigkeit dieses rührenden Versprechens:"Dies konnte ein Lehrer vor der Versetzung zu einem Schüler sagen, dem er wohlwollte, oder er konnte es über ihn denken. Aber Unrat hatte es noch zu keinem gesagt und von keinem gedacht." (82)
Am nächsten Morgen erleben die Schüler der Untersekunda einen merklich veränderten Professor Unrat. Dieser ist nicht nur zu spät gekommen; er nimmt nicht einmal Anstoß am allgemeinen "Unrat"-Gebrüll der Klasse. Völlig konfus, "giftsprühend" und "mit geradezu kränklicher Grillenhaftigkeit" hält er den Unterricht, ständig bemüht, Kieselack, von Ertzum und Lohmann zu ignorieren - dabei "dachte [er] nur an sie". Die Ungewißheit über das, was die Schüler über ihn wußten, und die quälende Unsicherheit, ob sie nach seinem Weggang aus der Künstlergarderobe nicht vielleicht doch noch dort aufgetaucht sind, rauben ihm seine klare Besinnung. Die "drei Verworfenen" ihrerseits empören sich, daß Unrat die von ihnen allen begehrte Sängerin "betrunken gemacht" (83) habe. Mit "verächtliche[r] Selbstverständlichkeit" verabreden sie sich für den Abend erneut im Blauen Engel.
Für Unrat werden die Besuche in der Künstlergarderobe des Vergnügungslokals zu einer täglich erfreulicher werdenden "Pflicht"; für die Künstlerin Rosa Fröhlich wird Unrats Erscheinen zu einem Dienst, den sie bald mit großer Selbstverständlichkeit hinnimmt und fordert. Sie bewundert und lobt seine überaus rasch ausgebildete Geschicklichkeit beim Schminken ihres Gesichtes - weshalb Unrat in kindlicher Schadenfreude nun den entscheidenden Vorteil gegen seinen Rivalen Lohmann gewonnen zu haben glaubt: "Lohmann durfte nicht mehr hoffen, ihn zu ersetzen [...] Ja, wenn Lohmann durch eifrigeres Memorieren der aufgegebenen Homerverse sein Gedächtnis geübt hätte! Nun stellten sich die Folgen dieses Müßiggangs heraus." (85) Das Verhalten Unrats, der "wie eine große schwarze Spinne" durch die schmutzige Wäsche auf dem Fußboden kriecht, wird immer absonderlicher. Er erleidet klaglos die wechselnden Stimmungen seiner launischen Gebieterin. Als sie ihn einmal gar ohrfeigt und dabei bemerkt, daß er die Kunst des Schminkens heimlich an sich selbst geübt hat, lacht sie den "hilflos" errötenden Unrat verletzend aus und nennt ihn dabei erstmals bei seinem Spottnamen: "Oh Sie - Unrat! " (86) Zuerst ist dieser "entsetzt", doch dann "lächelte er glücklich":"es schüttelte ihn heftig um, aber nicht peinlich, sondern zu Lustgefühl. Dies gab ihm einen kurzen Verdacht und eine schwache Scham ein, wieso es ihn glücklich machen könne, daß die Künstlerin Fröhlich ihn bei seinem nichtswürdigen Namen nenne. Aber er war nun einmal glücklich. (86)
Schließlich stellt Rosa fest, daß sie zu Unrat in einem ganz besonderen Verhältnis stehe und stellt ihm ganz vertieft die Frage: Aber was soll es, was wollen Sie? (87)
Über diese Frage Rosas hat Unrat selbst noch nicht nachgedacht. Vielmehr treibt ihn eine übersteigerte "Furcht" vor seinen drei widersetzlichen Schülern zu immer absonderlicheren Maßnahmen. Vor dem Blauen Engel fordert er sie zum Examen über den eben erlebten "Kunstgenuß", mit dem Hinweis, sie könnten auf diese Weise ihre Zeugnisnoten noch verbessern. Lohmann muß sich Unrats höchst herablassende Würdigung seines Liedes vom runden Mond anhören. Obwohl "erschreckt und erbittert, weil Unrat ein Stück von seiner Seele zwischen seinen dürren Fingern umwendete" (88), kann sich Lohmann in diesem Gespräch gegen Unrat behaupten, indem er jede ernste Absicht des Liedes leugnet und es selbst als "frivoles Machwerk" bezeichnet. Seiner Kritik, daß der von Unrat favorisierte Homer durch den zeitgenössischen Schriftsteller Zola poetisch "längst überboten" sei und seinem Eintreten für den Dichter Heinrich Heine steht Unrat zwar in heller Empörung, aber dennoch hilflos gegenüber. Nun wendet Unrat sich dem in weniger behüteten Verhältnissen lebenden Kieselack zu. - "Sein Vater war ein des Nachts beschäftigter Hafenbeamter." (88) Kieselack versichert eilfertig, daß seine Großmutter ihn auch des Nachts streng beauf-sichtige.
In ohnmächtiger Wut ringt von Ertzum mit dem Gedanken, Unrat im Schutze der Dunkelheit einfach niederzuschlagen. Lohmann kann ihn jedoch leicht davon abhalten: "Hast du Lust, nach geschehener Tat mit dem alten Unrat zusammen in der Zeitung zu stehn? Wie kompromittierend!" (90) Im Inneren verachtete Lohmann von Ertzum ein wenig "wegen seiner Ungefährlichkeit. Aber wirklich "unzufrieden" wird Lohmann erst, als von Ertzum ihm anvertraut, daß er seit Sonntag "ein verzweifelter Mensch" sei - hatte Rosa sich doch durch von Ertzums Liebesbekenntnis nicht beeindrucken lassen. Lohmann sieht sich "in seiner Leidenschaft um Dora Breetpoot verletzt, weil nun auch Ertzum dank dieser lächerlichen Fröhlich in eine tragische Rolle geriet". (91)
Unrat findet in dieser Nacht erst "den Mut, sich schlafen zu legen" (92), nachdem er seine drei Schüler persönlich nach Hause geleitet hat und sie in ihren Betten weiß.
Aufgrund seiner sichtlich herausgehobenen Stellung in der Künstlergarderobe und durch seine eifersüchtige Abschirmung der Künstlerin Rosa Fröhlich gegen alle Verehrer und Bewerber ist Unrat im Blauen Engel mit der Zeit zu einer notgedrungen respektierten Autorität geworden. Gleichzeitig jedoch verbreiten die Abgewiesenen aus Neid Gerüchte über Unrats bedenklichen Lebenswandel.
Bald stellt ein Kollege Nachforschungen über ihn an und erinnert ihn eindringlich an die "Würde des Erzieherstandes". Diesen "unglaublichen Eingriff in seine Machtvollkommenheit" weist Unrat entschieden zurück: "Meine Würde - aufgemerkt nun also! - gehört mir selbst ganz allein." (93) Später bedauert er, die "hoch über der Menschheit" thronende Künstlerin nicht offensiver verteidigt zu haben.
Etwas wie ein "Rausch" überkommt ihn am kommenden Wahlsonntag: In seinem Haß auf die dünkelhaften Oberen" erscheint es ihm nun geboten, "den Pöbel in den Palast zu rufen", und er solidarisiert sich mit den sonst von ihm belächelten und verdammten Sozialdemokraten - "Die Macht der Kaste, der Lohmann angehörte, so entdeckte er, war eine zu brechende." (93)
Schon am nächsten Tag bereut er nicht nur seine politische Verirrung, sondern vor allem auch, Rosa zu dieser Zeit zu wenig beaufsichtigt zu haben. Er verdächtigt sie, die Zeit mit Lohmann verbracht zu haben, und beschuldigt vor allem Guste Kiepert, ihrer Aufsichtspflicht über die ihr "anbefohlene[.] Künstlerin" nicht nachgekommen zu sein. Je mehr er Rosa Fröhlich zur unerreichbaren Künstlerin stilisiert, um so mehr verachtet er die Kunst des Artistenehepaares. Zudem drängt die Artistin Rosa immer wieder, sich möglichst bald einen zahlungskräftigen Freier zu suchen, damit sie ihr endlich die geliehene Geldsumme von 270 Mark zurückzahlen könne. Rosa ,rächt' sich für diese Zumutung, indem sie nach dem Vortrag des kriegerischen Flottenliedes durch das Artistenehepaar unprogrammgemäß auf der Bühne erscheint und das Lied um eine ordinäre Strophe ergänzt. Bedingungslos und ohne jegliches Verständnis für Gustes Klage, Rosa "verulke [...] uns die heiligsten Güter", stellt sich Unrat schützend vor die Künstlerin - "das heiligste der Güter sei das Talent der Künstlerin Fröhlich". (97)
Die Spannungen erreichen ihren Höhepunkt, als Unrat unmittelbar darauf auch noch einen von Kiepert herbeigeschafften, gerade durch Versicherungsbetrug reich gewordenen Freier polternd und schulmeisterlich aus der Garderobe befördert. Guste Kiepert hält ihm nun vor, daß er keinerlei Recht habe, andere Verehrer Rosas abzuweisen, da er selber weder Geld beibringe noch Rosas legitime sexuelle Bedürfnisse befriedige.
So offen von der Artistin über die Erfordernisse von "Moral und Sitte" belehrt, verspricht Unrat der Künstlerin Rosa Fröhlich nun, ihr eine Wohnung zu bezahlen und läßt sich darauf von Rosa mit aufs Zimmer nehmen. Rosas Worte sind unmißverständlich: "Na, nu gehn Sie man voraus. Die Affen im Saal brauchen es ja nicht gleich zu merken." (101)
Der Schüler Kieselack hat es aber dennoch bemerkt - "Nu is es soweit! " - und folgt ihnen heimlich durchs Treppenhaus bis vor die Tür zu Rosas Zimmer (das er selbst bereits von innen kennt). Während er nun durchs Schlüsselloch Zeuge des ersten intimen Zusammenseins von Unrat und Rosa ist und gelegentlich seinen Kameraden von Ertzum und Lohmann in aufgeregten Gesten stumm Bericht erstattet, wird von Ertzum von der Vorstellung gequält, daß die reine Seele Rosas durch Unrat arg beschmutzt werde.
Lohmann ist auch jetzt wieder nur der zynische Zuschauer, der mit Rosa im Grunde genußvoll seine unerreichbare Geliebte Dora Breetpoot in den Schmutz gezogen sieht: "Auf Seele kommt es bei dem, was sie momentan betreibt, nicht eben an. Sie handelt schlicht weiblich." (102) Lohmann und von Ertzum, die den Blauen Engel bereits verlassen haben, werden von Kieselack zurückgeholt. Dieser hat bereits das Publikum im Saal über das neue Verhältnis Unrats zu Rosa informiert und kann seine Freunde überreden, nun zu dritt den Brautleuten im Kabuff ihre Aufwartung zu machen, um mit Unrat noch "Schindluder" zu treiben. Obwohl Lohmann dieses Vorhaben für geschmacklos" hält, schließt er sich an.
Im Kabuff werden sie von dem "in eines verschmolzen[en]" Paar zunächst ignoriert, dann in genüßlicher Herablassung empfangen. Unrat gedenkt, seinen Triumph als "Alleinherrscher im Kabuff" nun gebührend auszukosten:"Lohmann der Schlimmste, dessen Eleganz eine Demütigung war für die schlecht bezahlte Autorität; Lohmann, der die Unverschämtheit hatte Unrat nicht bei seinem Namen zu nennen; Lohmann, der kein mausgrauer, unterworfener Schüler und kein dummer Kerl war, sondern mit seinen unbeteiligten Manieren, seinem neugierigen Bedauern beim Zorn des Lehrers, den Tyrannen anzweifelte - zu allen den Nebendingen, mit denen dieser Lohmann sich abgab, hatte er die Künstlerin Fröhlich hinzuzufügen versucht. Hier aber war er gescheitert an Unrats ehernem Willen." (104)
Während Unrat bei aller äußerlichen Derangiertheit "förmlich verjüngt" (104) wirkt, erzeugt Rosas müdes Aussehen bei allen Anwesenden eher Unbehagen, "weil es ein allzu entschiedener Triumph Unrats war" (104). Dieser bemüht sich nun nach Kräften, die Gratulanten zu demütigen und zu beschämen. Kieselack, als der Unverschämteste, vermag sich diesen boshaften Anstrengungen Unrats zu entziehen und wagt seinerseits sogar den Versuch, Rosa zu erneuten Intimitäten zu erpressen - was ihm aber nur ihre lakonische Bemerkung "Rotztulpe" einträgt.
Der schwerfällige und geistig weniger bewegliche von Ertzum läßt sich widerstandslos von Unrat erniedrigen und nötigen, zur Belustigung der Anwesenden Gesangbuchverse zu rezitieren. Da Kiepert sich über ihn allzu lustig macht, beginnt von Ertzum mit ihm einen wüsten Ringkampf. Derweil fühlt sich Unrat endlich sicher genug, auch Lohmann zu attackieren. Unter schlimmsten Drohungen, "gepackt vom Schwindel des bedrohten Tyrannen" (108), erreicht er es schließlich, Lohmann zum Wegwerfen seiner Zigarette zu bewegen. Dennoch fühlt sich Lohmann ihm überlegen: Er spielt offen auf Unrats heikle Lage an - "Die Situation ist ungewöhnlich - für uns beide, Herr Professor" (108) -, und er folgt der Anweisung Unrats nur, damit dieser nicht, wie angedroht, auf der Stelle seinen Vater aufsuche - sind dort doch gerade an diesem Abend Konsul Breetpoot und dessen seit kurzer Zeit schwangere Gattin zu Gast.
Doch mit dem Wegwerfen der Zigarette ist der Machtkampf zwischen Lehrer und Schüler bereits symbolisch entschieden: Mit sadistischer Freude mokiert sich Unrat über Lohmanns "unglückliche Liebe". Auch Rosa, obwohl sie durchaus Gefallen an Lohmann gefunden hat und "sich mehr von ihm [wünschte] " als nur seine Huldigungsverse, stimmt hämisch in Unrats verletzende Schmähungen ein: " ,Jawoll', sagte auch Rosa. ,Es stimmt, und jedes Wort sitzt.' " (110)
Lohmann war angesichts dieser Erniedrigung gleich entschlossen, sich zu erschießen, da er Unrats höhnische Anspielungen auf seine heimliche Liebe zu Dora Breetpoot bezogen hat. Nicht ohne eine gewisse Enttäuschung und mit dem Gefühl der Entwürdigung wird ihm bald klar, daß Unrat nicht Dora Breetpoot, sondern Rosa Fröhlich meinte.In einer Rückbesinnung vor Kieselack und von Ertzum kommt Lohmann zu einer neuen und überraschenden Einschätzung Unrats:
"Dieser Unrat fängt an, mich zu beschäftigen: er ist eigentlich eine interessante Ausnahme. Bedenke, unter welchen Umständen er handelt, was er alles gegen sich auf die Beine bringt. Dazu muß man ein Selbstbewußtsein haben, scheint mir - ich für meine Person brächte so eines nicht auf. Es muß in einem ein Stück Anarchist stecken [...]" (lll f.)Hat Lohmann bereits eine beträchtliche innere Distanz zu dem Geschehenen gewonnen, so versucht von Ertzum lediglich, seine schmerzlichen Erfahrungen und Einsichten zu verdrängen, um weiter an die Reinheit Rosa Fröhlichs glauben zu können, die für ihn trotz allem "auf einem unzugänglichen Wolkenthron" (112) sitzt.
Obwohl es immer wieder der hartnäckigen Anstöße Rosas bedarf, Unrat zu finanziellen Leistungen für sie zu bewegen - Wohnung, Essen im Hotel etc. -, ist Unrat dennoch froh, sie auf diese Weise "aus ihrer Umgebung noch weiter heraus und fester an sich zu ziehen" (114). Vorerst weigert sich Rosa zu Unrats großer Enttäuschung allerdings noch, sich in der Öffentlichkeit mit ihm zu zeigen. Da sie glaubt, daß Gerüchte über ihren Lebenswandel ihn irritieren könnten, läßt sie Unrat über ihr Vorleben im Unklaren.
Doch Unrat trotzt wehrhaft und kampfeslustig allen Anfechtungen. Sein ,bürgerliches' Leben am Schulvormittag ist ihm nur noch eine qualvolle Durchgangsstation zu seinem eigentlichen Leben nach Schulschluß. Von seinen Kollegen gemieden, belächelt oder offen verabscheut, von seinen Schülern mißachtet und inzwischen ohne jede Hemmung laut als "Unrat" verhöhnt - v.a. Lohmann, von Ertzum und Kieselack nutzen ihre Unangreifbarkeit schamlos aus -, muß sich Unrat schließlich vor dem Direktor des Gymnasiums für die "sittliche Auflösung" seiner Klasse verantworten. An seine Vorbildfunktion erinnert, rechtfertigt sich Unrat selbstbewußt, auch der Athener Perikles habe eine Geliebte gehabt. Vollends die Sprache verschlägt es dem Direktor, als sich Unrat auf das humanistische Bildungsideal beruft:
"Ich würde mein Leben - immer mal wieder für nichts erachten, wenn ich den Schülern die klassischen Ideale nur vorerzählte wie müßige Märchen. Der humanistisch Gebildete darf des sittlichen Aberglaubens der niederen Stände billig entraten." (117)
Unrat verteidigt sein neues Leben offensiv. Alle, die Bedenken an seinem Lebenswandel anmelden - so seine Wirtschafterin, eine von ihm beauftragte Schneiderin oder der Schuhmachermeister Rindfleisch -, werden von ihm gelassen und ironisch abgefertigt. Doch von der Höhe seines Selbstbewußtseins stürzt Unrat schon bald in die Tiefe persönlicher Enttäuschung und sozialer Ächtung.
Wie der Leser - nicht aber Unrat - bereits weiß, hatte Rosa an jenem Sonntag, den Unrat im Hauptquartier der Sozialdemokraten verbrachte, mit Kieselack, Lohmann und von Ertzum eine Landpartie unternommen, bei der von Ertzum in seinem jugendlichen Liebesgram ein kulturgeschichtlich bedeutsames Hünengrab zerstörte.
Alle drei Schüler müssen sich schließlich vor Gericht verantworten. Kieselack spielt hier eine höchst zweifelhafte Rolle. Da ihm Straffreiheit zugesagt und sogar eine Geldbelohnung in Aussicht gestellt worden war, hat er sich der Polizei gestellt. Nachdem er nun aber dennoch gerichtlich belangt wird, leugnet er jede persönliche Schuld, bezichtigt vielmehr die bisher nicht in den Prozeß verwickelte Rosa Fröhlich, die eigentliche Anstifterin zur Zerstörung des Hünengrabes gewesen zu sein. Der Anklagebehörde ist diese Ausweitung des Täterkreises nur recht. Hätte sie geahnt, daß die Söhne und Mündel hochstehender Patrizier die Verantwortung für die Straftat tragen - und nicht lediglich "Burschen vom Schlag des Kieselack" -, hätte sie die Anklage gar nicht erst erhoben.
Kieselack gelingt es in seinem hinterlistigen Streich auch, Unrat in die Affäre hineinzuziehen. Unrat könne kompetente Aussagen zur Person der Künstlerin machen: "Fragen Sie man Herrn Professor! Der kennt sie am besten." (122) Unrat, höchst peinlich befragt, ob die zur Zeit noch nicht anwesende Künstlerin Rosa Fröhlich ihm an jenem Sonntag tatsächlich "durchgegangen" sei, bestreitet unter Eid die Teilnahme Rosas an der Landpartie. In kluger Berechnung der Gemütslage Unrats fordert Lohmanns Anwalt den Gymnasialprofessor nun auf, die drei angeklagten Schüler aus seiner Kenntnis zu charakterisieren. Unratläßt sich daraufhin zu einer ihn selbst mehr als seine Schüler belastenden Schmährede hinreißen. Zudem geißelt er in blinder Wut und ohne Rücksicht auf die anwesenden Konsuln Lohmann und Breetpoot nicht nur von Ertzums "mißratenen Onkel", sondern auch den "ideallosen Gelddünkel der städtischen Patrizier" und ruft Lohmann erneut zu, "daß die Macht seiner Kaste eine zu brechende sei!" (125)
Unrats peinlicher Auftritt wird vom Vorsitzenden beendet, und die inzwischen herbeigeholte Rosa Fröhlich muß sich nun zu den Vorwürfen gegen sie äußern. Freimütig gesteht sie, an der Landpartie teilgenommen zu haben, ohne damit allerdings irgendeine Verantworung übernehmen zu wollen - "Was sie mit dem ollen Hünengrab gemacht haben [...] das is mir dunkel und kann es auch bleiben" (126). In der Absicht, Unrat auf dem Umwege über ihre Gerichtsvernehmung gleich ein paar schmerzliche Wahrheiten mitzuteilen, gibt sie nicht nur preis, daß von Ertzum ihr einen Heiratsantrag gemacht habe, sondern offenbart auch ihre sexuellen Kontakte zu Kieselack. Ihre Beziehung zu Lohmann bestimmt sie doppeldeutig in der Feststellung, Lohmann "werde ihr immer der letzte sein" (127).
Zutiefst getroffen und im Innersten verletzt, hat sich Unrat "während der allgemeinen Heiterkeit mit langen Schritten davongeschlichen" (127). Er sieht sich von der Künstlerin Fröhlich getäuscht, verraten und verlassen - "Die Künstlerin Rosa Fröhlich gehörte jedem" (128) -, und er weiß sich vernichtet in dem Bewußtsein, den Schüler Lohmann doch nicht verdrängt und überwunden zu haben.
Nach dem Prozeß befindet sich Unrat auf dem Tiefpunkt seiner Existenz. Nur noch "kraft eines Restes von staatserhaltender Gewohnheit" erscheint Unrat im Gymnasium, wo er für Kollegen und Schüler eigentlich nicht mehr existiert. In der Stadt ist Unrat seit dem Prozeß eine skurrile "Sehenswürdigkeit" für Touristen geworden: Die braven Brüger quittieren seine unrühmliche Entwicklung mit fassungslosem Kopfschütteln; die "unzufriedenen Bürger" stilisieren ihn zu einem Vorkämpfer der "Emanzipation" und versuchen, ihn für sich zu gewinnen. Unrat selbst nimmt alle Bekundungen von Sympathie oder Antipathie teilnahmslos und gleichmütig hin. In "martervoller Rachgier" ersehnt er lediglich das Ende der Künstlerin Fröhlich. Im Schutze der nächtlichen Finsternis jedoch zieht es ihn zuweilen vor das Hotel, in dem er ihr ein Zimmer eingerichtet hat. Hier begegnet ihm eines Nachts der Schüler Lohmann, den keineswegs das Interesse an Rosa hergeführt hat. Vielmehr kommt er kummervoll von der verschlossenen Tür des Breetpootschen Hauses, wo seine heimlich geliebte Dora gerade entbunden hat. Unrat überschüttet ihn unversehens - "mit den Augen einer wütenden Katze" - mit einer Fülle von Verdächtigungen und Verwünschungen. Lohmann verzichtet jedoch darauf, in gleicher Weise zu kontern. Wiederum sieht er in Unrat vor allem "den interessanten Anarchisten", den "Allerweltsfeind", für den er "Mitleid und auch eine Art von zurückhaltender Sympathie" empfindet (131).
Wenige Tage später offenbaren sich die Folgen des Hünengrabfrevels und vor allem des anschließenden Prozesses: Lohmann bleibt dank der Protektion seines Vaters Schüler des Gymnasiums; Kieselack hingegen wird, vor allem wegen seiner bekanntgewordenen Beziehung zur Künstlerin Fröhlich, der Schule verwiesen; von Ertzum verläßt die Schule freiwillig, und Unrat wird - er selbst hat es längst vorausgesehen - entlassen.
"Unbeschäftigt und planlos" verbringt Unrat nun seine Zeit. Eine wichtige Veränderung in seinem Leben bringt bald ein Besuch des Pastors Quittjens. Quittjens hatte zugesehen, wie hier jemand immer tiefer in Sünde und Verlegenheit hineinritt. Jetzt, da der Mann am Boden lag, war er der Meinung, daß für das Christentum etwas zu machen sei". (132)
Der Pastor stellt Unrats "Wiederaufnahme bei den Besseren" (132) in Aussicht, d.h. seine Aufnahme in einen Kegelklub oder einen politischen Verein. Voraussetzung wäre allerdings Unrats Bereitschaft zur Reue und zur Beendigung seiner Verirrungen.
Quittjens geißelt die Sündhaftigkeit der Welt, geniert sich aber nicht, eigene amouröse Erfahrungen mit Halbweltdamen anzudeuten: "Man sei ja auch kein Frosch gewesen, huhu." (133)
Doch Unrat fühlt sich in seinem persönlichen Ehrgefühl verletzt, da Quittjens von Rosa als einem jener "Dämchen" spricht, derer man sich wohl stillschweigend bedienen dürfe, die es aber dann doch nicht wert [seien], daß man seine Existenz und die von anderen Leuten auf den Kopf stelle" (134). Da die Künstlerin Fröhlich ganz allein "seine Angelegenheit" war, beansprucht Unrat nur für sich allein das Recht, sie in Frage zu stellen. In neu entbrannter "von Angst durchjagt[er] Tyrannenwut" setzt er den Pastor vor die Tür.
Unbeabsichtigt hat Quittjens einen folgenreichen Bewußtseinswandel Unrats bewirkt: Unrat wußte bisher nichts vom Schulverweis Kieselacks. Die beiläufige Bemerkung des Pastors, daß Unrat diesen ins Unglück gestürzt habe, und seine Warnung, Unrats Beispiel der Sittenlosigkeit könne andere ins Verderben führen, eröffnen ihm ungeahnte "Aussichten auf Rache", schien es doch möglich, daß sie "noch anderen Schülern zum Verderben gereichte" (135).
Rosa steigt wieder in seinem Ansehen, weil sie Kieselack verführt und damit gleichzeitig auch "zum Verderben [...] geführt hatte" (134f). Hin und hergerissen zwischen Eifersucht und Rachgier, erweist sich Unrats Rachgier als stärker: "Die Künstlerin Fröhlich war gerechtfertigt." (135)
Doch vorerst kann sich Unrat das Verderben nur als Schulverweis vorstellen, und er bedauert, daß so viele derer, denen er es "nicht beweisen" konnte, die Schule bereits verlassen hatten. Da Rosa nun "gerechtfertigt" ist, klopft Unrat schließlich an die Tür der Künstlerin, die selbst gerade im Begriff war, Unrat aufzusuchen - "nicht nur ihres Vorteils wegen, nein, auch aus Mitleid und auch aus Hochachtung" (136). "Von Farbe und Kraftlosigkeit des heftigsten Schamgefühls befallen", stellt Unrat Rosa seine "kühne Lebensauffassung" vor: Die "sogenannte Sittlichkeit" stellt für ihn lediglich eine Philistertugend dar - gleichzeitig aber auch ein sehr brauchbares Instrument zur Beherrschung von "Untertanenseelen". Zwar habe er sich "persönlich stets an den sittlichen Gepflogenheiten des Philisters beteiligt", da er keinen Anlaß sah, diese abzulegen, dennoch wisse er um deren beschränkte Gültigkeit. Ausdrücklich billigt er Rosa in ihrem Lebenskreise andere sittliche Maßstäbe zu, wenngleich ihn ihre Treulosigkeit sehr geschmerz habe.
Unrat hat erkannt, daß Rosas Verführungskünste für die Verführten gesellschaftliches Verderben bedeuten können. So ist es wohl weniger seine "kühne Lebensauffassung" als seine Aussicht auf baldige Rache an der Gesellschaft, die ihn bewegt, Rosa eine Vorwegabsolution für ihre zukünftigen Seitensprünge zu erteilen. Unrats sittliche Toleranz Rosa gegenüber hat allerdings eine Grenze: "Nur einen gibt es, den könnte ich dir nie verzeihen [...] Das ist Lohmann!" (138)
Gemeinsam erleben Unrat und Rosa nun " eine schöne Zeit" (139). Rosa geht jetzt ohne Bedenken und im Bewußtsein, seiner würdig zu sein, öffentlich an Unrats Seite. Unter den von Unrat "mit einer hinterhältigen Genugtuung" registrierten "neidisch-entrüsteten und übelwollend-begehrlichen Blicken" begeben sie sich "mitten unter die wohlhabende und ehrbare Gesellschaft" (139). Von Unrat hoch über die Menschheit erhoben, bemüht sich Rosa - allerdings ohne den rechten Erfolg - "ihrerseits den Mann recht hochzuschätzen" und zu lieben. Um ihm zu schmeicheln, nimmt sie bei ihm sogar Griechischunterricht. Gerührt von diesen Anstrengungen macht Unrat ihr einen förmlichen Heiratsantrag, den sie auch gleich annimmt: "Nu wer' ich Frau Unrat! Ich lach mir ja'n Ast" (140). In einer sehr geschickt inszenierten Begegnung gelingt es Rosa auch, Unrat zur Annahme ihrer ihm bislang verheimlichten Tochter zu bewegen.
Eine Promenade der leuchtend weiß gekleideten jungen Familie Raat durch den nahe gelegenen Kurort an der Küste wird zu einem gesellschaftlichen Ereignis besonderer Art. Die attraktive, stets elegant und verführerisch erscheinende ehemalige Künstlerin Fröhlich sammelt rasch eine Schar wohlhabender Verehrer um sich. Obwohl alle Bewerber in Unrat nur ein lächerliches, schwächliches Hindernis auf dem Weg zu ihrem Ziele sehen, haben sie doch bei jeder Annäherung an Rosa das Gefühl, "hineingefallen" zu sein - und bislang vermochte Unrats Einfluß auf Rosa zu verhindern, daß irgendeiner sein Ziel erreichte. Unrat scheint keineswegs eifersüchtig: Wie einst in der Künstlergarderobe macht er Rosa eigenhändig zurecht für das staunende Publikum. Rosa selbst "stellte alles auf den Kopf und stiftete Vergnügen und Empörung" (142). Als ihr ein eifriger Bewerber am Tag der Abreise vom Geld seiner Verwandten eine teure Brosche schenkt, kommt es zu einem "lebhaften Zwischenfall": Der Onkel des freigebigen Verehrers fordert lautstark das kostspielige Geschenk zurück. Mit großer Genugtuung bemerkt Unrat, daß es sich bei dem Geschädigten um den Vater von Schülern handelt, die er nie "fassen" konnte. Und mit wohligem Staunen wird ihm bewußt, daß "Schaden und traun fürwahr - äußerstes Verderben [...] sich also auch auf andere Weise bewirken [ließen] als durch Vertreibung von der Schule" (145).
Wieder zu Hause fehlt Rosa das gewohnte gesellschaftliche Treiben. "Die Pielemann", eine zufällig entdeckte und eingeladene alte Bekannte Rosas, bringt nur vorübergehend Abwechslung und Zerstreuung. Zudem offenbart Unrat, daß durch Rosas aufwendiges Leben inzwischen alle seine Ersparnisse [in Höhe von 30 000 Mark] aufgebraucht seien und sogar Schulden gemacht werden mußten. Die Pielemann entscheidet nun, daß Unrat ihrem Freund Lorenzen Griechischstunden geben müsse - "Ich schick ihm meinen Freund. Den kann er meinetwegen ruppen." (147) Lorenzen handelt mit griechischen Weinen und braucht daher Griechischkenntnisse. Auch Weinhändler Lorenzen gehört zu jenen ehemaligen Schülern, die Unrat nie "fassen" konnte, und "erregt und mit tückischem Lächeln" wittert Unrat die Chance der späten Rache: "`Ei, ei', bemerkte er dazwischen, ,noch ist nichts verloren'." (147)
Fasziniert von der Dame des Hauses läßt Lorenzen seinen zunächst erhobenen "Anspruch auf überlegene Ironie" bald fallen. Die Griechischstunden werden von Unrat sehr schnell umfunktioniert zu Festlichkeiten mit einer immer größer werdenden Besucherzahl - die Finanzierung dieser Geselligkeiten obliegt freilich den Gästen. Angesehene Mitglieder der "feinen bürgerlichen Gesellschaft" stellen sich ein; selbst der aufstrebende Oberlehrer Richter, endlich verlobt "mit dem Mädchen aus reicher, Oberlehrern sonst unzugänglicher Familie", buhlte ohne jede Zurückhaltung um die Gunst der Hausfrau. Die übertriebenen Schilderungen von Festteilnehmern und die lüsterne Phantasie braver Brüder und junger Mädchen in der Stadt führen zur Verbreitung von Gerüchten über "Unzucht", erotische "Pfänderspiele" und "Orgien" im Hause Unrats.
Bald führt Lorenzen ein riskantes Glücksspiel ein, bei dem er selbst am meisten verliert. Auch Unrats Leben bewegt sich nun im Auf und Ab seiner Spielgewinne und -verluste. An einem Tag macht Rosa den riesigen Gewinn von 12 000 Mark, am nächsten Tag bereits haben die Gläubiger das gesamte Geld kassiert. Doch noch an diesem Unglückstag verbreitet sich die Neuigkeit, die Unrat über den Verlust hinwegtröstet: Der Weinhändler Lorenzen hat Bankrott gemacht. Unrat triumphiert: Der Schüler Lorenzen ist nun gefaßt worden. Diesmal ist es mir gelungen, ihn zu fassen und ihn seinem wohlverdienten Schicksal auszuliefern." (152)
Unter den zahlreichen Gästen Unrats befindet sich auch der noch minderjährige Sohn des Oberlehrers Hübbenett, jenes Kollegen, der sich vor Jahren vor Unrats eigener Klasse über den "sittlichen Unrat, vielmehr Kot" des auf Abwege geratenen Unratsohnes lustig gemacht hatte. Wütend taucht nun Hübbenett bei Unrat auf, ergreift seinen Sohn, der hohe Geldsummen verspielt hat, erhebt die schwersten Anschuldigungen gegen Unrat und droht Schritte an gegen diese "Zustände, die vermittels beraubter väterlicher Kassen und durch andere, aus Blut und Kot zusammengeknetete Mittel aufrechterhalten würden" (153). Schnell klärt ein "beunruhigter Festteilnehmer" Hübbenett auf, daß die anwesenden einflußreichen Gäste wie Konsul Breetpoot oder Polizeirat Flad kaum an einer Abschaffung dieser Zustände interessiert seien. Erfreut, daß in Hübbenetts "Oberlehrerhause etwas nicht sein [mußte], wie es sein sollte", und "siegstrahlend" über Hübbenetts kleinlauten Abgang ruft Unrat seinem verhaßten Exkollegen noch höhnisch nach, er und sein Sohn seien in seinem Hause stets willkommene Gäste.
Den Sommer verbringt Familie Raat wieder im nahe gelegenen Seebad. Dem zahlungskräftigen "Wirbelwind von Lebewelt im Gefolge Unrats" stehen hier alle Türen offen. Noch launischer und egozentrischer als im Vorjahr gebietet Rosa Fröhlich über die Schar ihrer Verehrer. Ein ehemaliger Schüler Unrats soll, nach einem besonders opulenten Diner, auf ihren Wunsch und unter der heimtückischen Ermutigung durch Unrat zu einer entfernten Sandbank hinausschwimmen. Rosa und Unrat setzen sein Leben bewußt aufs Spiel. Zunächst scheint es, als habe der ehemalige Schüler Jakobi diesen Akt des Frauendienstes nicht überlebt:
"Er [Unrat] sah in das schlaffe, blutleere Gesicht des Schülers Jakobi und rief es sich zurück, wenn es höhnisch und aufrührerisch gewesen war. Das waren die. Da lagen sie und waren besiegt: gründlich besiegt. Darüber hinaus gab es keinen Sieg und keine Züchtigung. Eine leichte Bauchbeklemmung empfand er dabei. Der Triumphweg unter ihm geriet wieder ins Schwanken. Dem Tyrannen schwindelte es auf seinem wahnsinnigen Gipfel ... Aber Jakobi öffnete die Augen." (155)
Das nächste Opfer, das Unrat mittels seines ,Lockvogels' Rosa zu Fall bringt, ist sein Exkollege Richter. Richter läßt sich, in blinder Unterwerfung unter Rosas Willen, zu einer ihn öffentlich kompromittierenden Verrücktheit hinreißen: Mit der betrunkenen Rosa reitet er, vor den Augen seiner Verlobten, auf einem Esel johlend über die Promenade; nachdem er gar eine Nacht mit Rosa verbracht hat, wird seine Verlobung mit der Tochter aus hohem Hause aufgelöst, und das Ende seiner beruflichen Karriere scheint besiegelt.
So sehr Unrat nun auch den jähen Sturz Richters genießt, so sehr "mußte er seinen Triumph bezahlen" (158). In jener vergangenen Nacht, die Rosa mit Richter verbrachte, lag er schlaflos in seinem Bett und "krümmte [...] sich und begann zu wimmern" (157) vor quälender Eifersucht.
Unrat ist nach dem Sommerurlaub in seine "Villa vorm Tor" zurückgekehrt, in das weithin bekannte und anerkannte Zentrum des gesellschaftlichen (Nacht)Lebens "dieser altertümlichen Stadt". Die Villa, umgeben von einem geheimnisvollen "Fabelschimmer", ist zu einem verheißungsvollen Ort des Lasters und der Sünde geworden, von dem sich nur wenige sittlich standhafte, kühle oder sparsame Bürger fernhalten. Reiche Kaufleute und einflußreiche Konsuln, hohe Leutnants und Assessoren, Pastor Quittjens und die Richter aus dem Hünengrabprozeß - alle ehrenwerten Bürger der besseren Gesellschaft geben sich hier ein Stelldichein "in der Erwartung besonderer, zweideutiger Verfeinerungen, eines unerhörten Mittelzustandes, wo die Liebe nicht gleich bar beglichen wurde und man sich trotzdem nicht langweilte" (160f). Obwohl die Sitten immer loser werden und eine "Formlosigkeit im Vergnügen" sich ausbreitet, hält die Herrin des Hauses doch auf Etikette: "Die Künstlerin Fröhlich betrieb den Ehebruch mit all der Umsicht und dem ganzen Zeremoniell der im Ernst verheirateten Frau. " (161)
Händereibend sieht Unrat zu, wie in seinem Hause die besseren Herrschaften aus ihrer bürgerlichen Bahn geworfen werden und verderben, ertappt beim Ehebruch oder bei Wechselfälschungen, beim Falschspiel oder Geldraub. Hinterlistig spricht er Verdächtigungen aus und leitet Durchsuchungen der angesehensten Bürger ein:
"Sie hatten der Herrschergewalt sich zu widersetzen gewagt; nun mochten sie, losgelassen, sich gegenseitig die Rippen einschlagen und das Genick umdrehn. Aus dem Tyrannen war endgültig der Anarchist herausgebrochen. (163)
Unrat gefällt sich "in seiner jetzigen jugendlichen Färbung" und betrachtet sich immer wieder eitel und selbstgefällig im Spiegel. Er erinnert sich der Nacht, in der er auf der Suche nach der Künstlerin Rosa Fröhlich durch die Stadt irrte und ihm von überallher "sein Name zugeworfen [ward] wie ein Stück Schmutz" (163). Nun nimmt er den Namen an, "setzte ihn sich auf wie einen Siegerkranz." "Jaja, ich bin ein rechter Unrat." (164) In kaltem Triumph schaut Unrat auf sein Vernichtungswerk, "die Entsittlichung einer Stadt" (165) und auf seine Opfer:
"Alles Opfer, die ihm brannten! Alle drängten sich, sie ihm anzuzünden, sich selbst ihm anzuzünden. Was sie hertrieb, war die Leere ihrer Gehirne, der Stumpfsinn der humanistisch nicht Gebildeten, ihre dumme Neugier, ihre mit Sittlichkeit schlecht zugedeckten Lüsternheiten, ihre Habgier, Brunst, Eitelkeit und zudem hundert verquickte Interessen." (164)
In seinem siegreichen Zerstörungswerk kann Unrat, der "Menschenfeind", gleichwohl nicht glücklich sein. Er hat sich der Künstlerin Rosa Fröhlich "ausgeliefert" und sich dadurch geschwächt. Sie ist ihm mehr als ein "Instrument, die Schüler zu ,fassen' und hineinzulegen" (165): Sie ist das Objekt seines "überreizt[en] Zärtlichkeitstrieb[es]" und seiner "Liebe, die sich auflehnte gegen den Dienst seines Hasses". (166)
Rosa kann sich Unrats Verhalten kaum erklären. Zwar empfindet sie seine eifersüchtigen und mißtrauischen Nachstellungen als "ordentlich aufregend", doch sein Inneres bleibt ihr fremd - Unrat selbst setzt sie ja mit seinen Empfehlungen auf gewisse Schüler an, die sie "totmachen" soll.
Aus diesem Widerspruch erwächst Unrats qualvolle Leidenschaft: "Seine Liebe, die er täglich verwunden mußte, um seinen Haß zu füttern, reizte diesen Haß zu immer tollerem Fieber." (167) In seinem Bewußtsein wechselt das Bild der vor ihm "um Gnade flehenden Menschheit" ab mit der Schreckensvision der von Lohmann umarmten Rosa.
Da Unrat und Rosa bei aller Welt hoch verschuldet sind, ist es ihnen kaum noch möglich, sich auf der Straße zu zeigen, ohne von wütenden Gläubigern bedrängt zu werden. Zuweilen, wenn Rosa der "Hetzjagd mit Männern" überdrüssig ist, hält sie Unrat vor, daß sie bei all ihren Siegen immer weiter verarmten. Schließlich führe sie "dies blödsinnige Leben", damit ihre Tochter nicht so leben müsse wie sie, und nicht, "damit du deine Männekens klein kriegst" (168). Durch solche Worte zutiefst verletzt, wird Unrat schon am Abend durch ihre Zärtlichkeiten wieder beruhigt und gibt sich der Illusion hin, "es sei nie etwas Ernsthaftes vorgefallen".
Eine gewisse Ruhephase des Unratschen Bewußtseins wird beendet durch eine zufällige Begegnung mit Lohmann und von Ertzum auf der Straße. Zwar bemühen sich Unrat und Rosa, den Gedanken an die ehemaligen Schüler zu verdrängen, doch ist Unrat bereits wieder vom ,Jagdlieber' ergriffen. Er vertraut Rosa an, wie es ihm gelungen sei, nach Kieselack nun endlich auch von Ertzum ins Verderben zu führen. Jetzt sei nur "der dritte [...] ein noch zu Fassender" (170). Seine eindringliche Beschwörung, daß aber nicht Rosa ihn "fassen" sollte, nimmt sie mit gemischten Gefühlen auf:
"Er sagte es mit einer Art fürchterlichen Flehens, das sie noch nicht kannte, das sie grausig kitzelte, sie erwartungsvoll ängstigte, wie ein wildes Klopfen bei Nacht an ihrer Tür." (171)
Aufs sorgfältigste zurechtgemacht und mit "ein[em] bißchen Erwartungslieber" provoziert Rosa am nächsten Morgen eine Begegnung mit Lohmann in der Stadt. Verborgen "vor den scharfen Augen der Kleinstädter" unterhalten sie sich in einer Konditorei über die Entwicklungen der letzten zwei Jahre: Lohmann hat diese Zeit als Handelsschüler und Volontär in Brüssel und England verbracht.
Im Stillen erinnert Lohmann sich seiner Jugend, der er sich nun entwachsen weiß. Nach einem Besuch bei Breetpoots fragt sich der zu einem "Herrn" gereifte Lohmann, wie "die kleine Provinzdame" Dora Breetpoot, welche "Dialektausdrücke" benutzt und recht geschmacklos die "Mode vom Vorjahr" trägt, ihn damals so sehr in ihren Bann ziehen konnte. Er verübelt ihr, daß ihr wirkliches Bild nicht mit seinem Wunschbild von ihr übereinstimmt, und verzeiht der "kleinen Snobdame" und mehrfachen Mutter nicht, daß sie die Spuren ihres wirtschaftlichen Abstiegs zu erkennen gibt. Lohmann hat sich in den letzten zwei Jahren kaum verändert:
"Lohmann liebte die Dinge vor allem um ihres Nachklangs willen, die Liebe der Frauen nur wegen der ihr nachfolgenden bitteren Einsamkeit, das Glück höchstens der würgenden Sehnsucht zuliebe, die es in der Kehle zurückließ." (174)
Mit seiner "Liebhaberei für menschliche Seltsamkeiten" ist Lohmann angetan von Unrats Werdegang; noch "großartiger" aber findet er die Entwicklung Rosas "Von der Chanteuse des Blauen Engels zur Demi-Mondaine hohen Stils" (174), wobei ihm "das Kleinbürgerliche" ihrer Erscheinung natürlich nicht entgeht. Mit scharfem Blick analysiert er Rosas Erfolg in der Stadt: "Sie hatte sich als repräsentative Schönheit gebärdet, war allmählich dafür angesprochen worden und hatte es selbst wieder den Leuten geglaubt." (175) Mit gleichermaßen erstaunlicher Leichtigkeit und Treffsicherheit entwirft er der staunenden Rosa ein Psychogramm Unrats:
"Er ist ein Tyrann, der lieber untergeht als eine Beschränkung duldet [ .] Er ist der Erfinder der Majestätsbeleidigung [...] Der Menschenhaß wird in ihm zur zehrenden Qual [...] es braucht nur noch die Überreizung seiner Anlagen und Triebe, zum Beispiel durch eine Frau - und der Tyrann, von Panik erfaßt, ruft den Pöbel in den Palast, führt ihn zum Mordbrennen, verkündet die Anarchie!" (176)
Freilich glaubt Lohmann nicht, dem "alten, lächerlichen Unrat" mit dieser Beschreibung gerecht zu werden - "Dazu sah er ihn noch zu sehr aus der Perspektive von unterhalb des Katheders" (176). Es geht ihm schlicht darum, Rosa zu imponieren, was ihm auch gelingt ("Er redete wieder so fein." 177) Vollends geblendet ist diese dann, als Lohmann ihr sachkundige Informationen zum letzten Stand der Kleidermode zu geben weiß. Von Lohmann unverblümt gefragt, ob er "wohl jetzt dran" sei, lädt Rosa ihn ein, sie doch am Nachmittag zu besuchen, wenn sonst niemand da sei.
Lohmann folgt dieser Einladung, "melancholisch und stolz" darauf, "was das Leben aus einem machte" (179). Gleich bei seinem Eintritt in die Wohnung fertigt Lohmann einen lästigen Gläubiger mit der Zahlung der geforderten Schuldsumme von 50 Mark ab. Da er sich einmal in der peinlichen Situation sieht, für etwaige Dienste Rosas bezahlt zu haben, bietet er ihr großmütig an, gleich ihre sämtlichen Verbindlichkeiten zu übernehmen. Obwohl Rosa dies nach innerem Ringen ablehnt, weil sie "nicht gekauft sein [wollte]", legt er provozierend seine mit braunen Scheinen gefüllte Brieftasche geöffnet auf den Tisch. Verwirrt von Lohmanns unverschämtem Blick und irritiert von seiner Feststellung, die körperliche Liebe sei ihm "schlechthin widerlich" (181), sieht sich Rosa in der Situation Evas im Paradies: Gerade die verbotenen Früchte üben einen besonderen Reiz auf sie aus:
"Sie hatte sich Lohmann in den Kopf gesetzt: vor allem, weil alle ihr erlaubt waren, und dieser einzige nicht. Das war ja nicht auszuhalten." (180)
Als Rosa ihm sein eigenes Lied vom runden Mond vorsingt - sie "dachte sich dabei, daß dies das einzige Lied auf der Welt sei, das sie nicht singen dürfe" -, taucht plötzlich Unrat auf. Unrats Schreckensvision ist nun Wirklichkeit geworden:
Lohmann sitzt bei der Künstlerin Rosa Fröhlich. Unrat sieht "sein ganzes strafendes Vernichtungswerk" (182) zerstört, und so "mußte [er] sie zum Tode verurteilen, und damit sich selbst" (182). Dieser Logik folgend versucht Unrat Rosa zu erwürgen. Lohmann unternimmt einen zaghaften Versuch, ihn davon abzuhalten - "Er wußte nicht, ob ihm hier tatsächlich eine Rolle zufiel." (183)
Da er immer nur "in seiner klugen Vorstellung" von der Wirklichkeit gelebt hatte, weiß er sich in dieser wirklichen Gefahr nicht zu verhalten und hat "Furcht vor dem Wirklichen" (183). Nachdem Unrat von Rosa abgelassen und diese sich ins Nebenzimmer geflüchtet hat, wendet er sich, fast sprachlos vor innerer Erregung und mit den Gebärden eines Wesens "zwischen Spinne und Katze" (183), Lohmann zu und entreißt ihm die Brieftasche. Damit hat "der interessante Anarchist" die entscheidende Grenze überschritten:
"Da geriet denn der Kommentator ins Stocken, dem Zuschauer versagte das wohlwollende Lächeln. Lohmanns Geist, der durch so unglaubwürdige Ereignisse noch nie erprobt worden war, warf alle Eigenart ab und antwortete auf `Verbrechen' ganz bürgerlich mit ,Polizei'." (184)
Lohmann alarmiert die Polizei, und bereits eine Stunde später jubelt die ganze Stadt:
"Endlich! Der Druck ihres eigenen Lasters ward von ihr genommen, da die Gelegenheit dazu entfernt ward. Man warf, zu sich kommend, einen Blick auf die Leichen rings umher und entdeckte, daß es höchste Zeit sei. Warum man eigentlich so lange gewartet hatte?" (184)
Unrat und Rosa werden von den Beamten zur Gefangenendroschke geleitet. Kieselack, der dank Unrat zum Bierkutscher herabgesunken ist, gibt Unrat ein letztes Mal höhnisch "seinen Namen", und während Unrat ihm noch wie vor Jahren drohend die Faust entgegenreckt, stößt ihn der Wasserstrahl aus dem Gummischlauch des Krämers Dröge ins Dunkel der Gefangenendroschke.