THEMEN / MOTIVE / STOFFE
Doppelgänger
Doppelgängertum beruht auf der physischen Ähnlichkeit zweier
Personen, bei der ein Zufall im Spiele sein kann oder
Blutsverwandtschaft, meist die von Zwillingen, so daß sie
besonders augenfällig wird. Die Existenz eines Doppelgängers
hat in jedem Fall nicht nur auf den Betroffenen, sondern auch auf
seine Umgebung eine verblüffende bis unheimliche Wirkung und
veranlaßt Spiel, Mimikry, Betrug.
Als literarisches Motiv eröffnet bereits ein solcher realer
Doppelgänger ein weites Feld für heitere bis tödlich ernste
Verwechslungen, Stellvertretungen und Unterschiebungen. Als
Angstvorstellung fächerte sich jedoch der Doppelgänger des
Volksglaubens und der Phantasie über den rational erklärbaren
hinaus zu einer Fülle spukhafter Doppelgängergestalten auf, die
von magisch-mystischen, in das Schicksal des Menschen
eingreifenden Kräften gezeugt und vielfach den zwei Seelen oder
dem Doppel-Ich des Menschen zu entsprechen schienen. Seit ihre Rätselhaftigkeit
nicht mehr vom Glauben an Magie abgefangen war, sind solche
fiktiven Doppelungen des Menschen durch eine auf seelischer Störung
beruhende Ich-Spaltung oder durch den Identitätsverlust einer
Person einsichtig gemacht worden.
Die Vorstellung von einem durch überirdisches Einwirken zustande
gekommenen Doppel-Ich berührt sich mit der im Volksglauben
vorherrschenden Auffassung, daß die Existenz des Menschen im
Traum, im Spiegelbild, im Schatten, ja selbst im Porträt ein
zweites Dasein bedeute und daß das Abbild ein lebendiger Teil
der Person sei. Was dem Abbild angetan wird, geschieht auch der
Person. Nach germanischer Anschauung spaltet sich kurz vor dem
Tod oder im Augenblick des Todes vom Menschen ein zweites Ich ab,
das dem Sterbenden vor Augentritt und ihm so seine "Auflösung"
anzeigt. Diese frühe, magisch fundierte Vorstellung einer
Ich-Spaltung hat sich vor allem in dem seit Ovid (Metamorphosen
um 2-8 n. Chr.) sehr verbreiteten Narziß-Mythos
niedergeschlagen. Narziß verliebt sich in sein vom Wasser
aufgefangenes Bild, zunächst ohne zu wissen, daß es ein
Spiegelbild ist, dann klüger und zugleich unglücklicher, da
seine Liebe nie Erfüllung finden wird; der Anblick des Doppelgängers
führt zur tödlichen Wahrnehmung des ewig geteilten und doch
einen Ich.
Die Vorstellung von einer zweiten Existenz des Menschen im
Abbild, die -- auch mit dem Christentum zu vereinbarende -- Idee
von den zwei Seelen, einer guten und einer bösen, in der
Menschenbrust, der Gedanke an einen leiblich-seelischen
Dualismus, der den Kampf des sinnlichen mit dem sittlichen Ich
auslöse, alle Hypothesen, Deutungen, Angstbekundungen im
Hinblick auf erwiesene oder drohende Persönlichkeitsspaltung
wurden von der Romantik durchdacht und an neuen
wissenschaftlichen Entdeckungen überprüft. Zu ihnen gehören
Experimente F.A. mesmers, der an Somnambulen und an Personen in
Trance oder tranceähnlichen Zuständen Verhaltensweisen
beobachtete, die sich offebar nicht völlig als
Folgeerscheinungen von Hypnose oder Magnetismus erklären ließen.
Ein zweiter Charakter nämlich enthüllte sich, die denkende
Seele trennte sich von der schlafenden und tat Dinge, die dem
Schläfer unbewußt waren. Eine solche Beobachtung schien die
Spaltbarkeit der Identität zu bestätigen. Der in der Trance
sich zeigende Charakter konnte dem normalen entgegengesetzt sein,
seine Eigenschaften hatten in einem Teil des Gemüts
"geschlafen", der dem rationalen Bewußtsein unzugänglich
war. Hier schien sich eine Stelle des Einbruchs in kosmische
Geheimnisse aufzutun. Ein doppeltes Bewußtsein des Menschen war
nahezu gleichbedeutend mit einem Doppelwesen. Dazu kam, daß
Fichtes in der «Wissenschaftslehre» (1794) dargelegte Ableitung
der gesamten Welt aus der Intelligenz des Ichs die Gewißheit vom
Selbstbewußtsein des Ichs voraussetzte. Die Vorstellung, daß es
keine erkennbare objektive Welt außerhalb des Ichs gebe, mußte
ein Zerbrechen des Ich-Gefühls als beängstigende Bedrohung
erscheinen lassen.
Die Dichtung gewann bei diesen halb naturkundlichen, halb
philosophischen Vorstößen in Grenzbereiche eine neue Variante
des Doppelgängers, die Verkörperung des unbewußten zweiten
Ichs und physische Projektion des zweiten der beiden Bewohner des
Gemüts. Dabei dominierten bei fast allen Autoren, die mit der
Motivvariante arbeiteten, allegorishce Sinngebungen, in denen
sich wieder das traditionelle gute und böse Ich zur Geltung
brachte. Der Doppelgänger ist entweder der warnende Engel, das
verdrängte gute Ich, oder der zählebige Teufel, die Inkarnation
der nur halb unterdrückten bösen Eigenschaften. Auch die
Vergangenheit eines Menschen kann sich in seinem Doppelgänger
verselbständigen. E.T.A. Hoffmann, ein begeisterter Anhänger
des Mesmerismus, hat Doppelgänger, freilich nur einige der
vielen von ihm geschaffenen, jenseits von Gut und Böse
angesiedelt. Im ganzen zeugt die für die Romantik typische
Doppelgänger-Motivvariante von der Entdeckung des gebrochenen
Persönlichkeitsbewußtseins durch die Dichtung, die zwar oft
noch überlieferte Medien der Doppelungen des Ichs -- Traumbild,
Schatten, Spiegelbild, Porträt --, aber auch reine
Phantom-Doppelgänger einsetzte.
Nachdem das Doppelgänger-Motiv von der Romantik dämonisiert und
auf sehr unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten hin
durchexerziert worden war, erhielt sich seine weite Verbreiitung
auch in der Literatur des mittleren und späten 19. Jahrhunderts
trotz des vorherrschenden Realismus. Dabei waren die Übergänge
zwischen dem rein imaginären Doppelgänger, dem an Medien wie
etwa einen Schatten oder ein Spiegelbild gebundenen Doppelgänger
und dem personalen Doppelgänger ebenso fließend wie diejenigen
zwischen dem allegorisch bestimmten und dem moralisch wertfreien,
psychologisch begründeten. Die überkommenen Funktionen von
Doppelgängern, Verwechslung, Stellvertretung, Unterschiebung,
spielten nur fallweise bei Verwendung des Motivs mit, ohne etwa,
wie in früheren Epochen, zu dominieren.
M. Dessoirs Buch «Das Doppel-Ich» (1890) faßte noch einmal
zusammen, was die halbintuitive romantische Psychologie der späteren
Bewußtseinsforschung vorwegnahm. Seit S. Freuds «Traumdeutung»
(1900) und «Psychopathologie des Alltagslebens» (1901) konnte
eine Gestaltung des Doppelgänger-Motivs in Kenntnis der
Psychoanalyse und unter ihrem Einfluß erfolgen, doch hielt die
Literatur an althergebrachten Zügen fest und gab den neuen
Theorien nur sehr langsam Raum. Die expressionistsiche Epoche
neigte der Allegorie zu.
Beispiele:
R.L.Stevenson: The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde, Erzählung,
1886
R. Kipling: The Dream of Duncan Parrenness, 1891
O. Wilde: The Picture of Dorian Gary, Erzählung, 1891
H.v.Hofmannsthal: Reitergeschichte, Erzählung, 1899
H.H.Ewers: Der Student von Prag, Roman, 1900
W. Hasenclever: Der Sohn, Drama, 1914
Franz Kafka: das Urteil
Franz Werfel: Der Spiegelmensch, 1920
(Frenzel)