Die heutigen Vorstellungen von Kommunismus und Kapitalismus in Rußland

KK tacc.jpg (45272 bytes)
TASS Gebäude, Moskau
     Ein Thema, das in ein paar Geschichten vorkommt, ist Kapitalismus und Kommunismus. Die fünfte Geschichte handelt zum Beispiel von einer Pförtnerin des TASS-Gebäudes. Die Pförtnerin Anna Gawrinina arbeitet schon seit zehn Jahren dort. Die Geschichte fängt mit einem friedlichen Bild an. Anna sitzt und hört klassische russische Musik an und liest Gogol, den sie am liebsten hat. Sie ist eine fleißige Arbeiterin. "Eher löste sich Anna Gawrinina in ein Nichts auf, als daß ein Unbefugter die Pforte passierte…" (S. 39) Sie gibt sich auch viel Mühe hilfsbereit und eine gute Gastgeberin zu sein. Wir erfahren, daß Anna Gawrinina niemals Geschenke annimmt. Die anderen Arbeiterinnen machen es schon, aber für Anna Gawrinina ist es genug, ihre Arbeit gut zu machen und ihre Freizeit mit Musik und Gogol zu füllen.
    
Aber eines Tages bekommt sie ein Geschenk. Es ist ein kleines Fläschlein Parfum. Schulze schreibt: "Was sie jetzt sah, hatte sie noch nie gesehen. Oder sie hatte es vergessen." (S. 41) Sie kann es kaum glauben und wartet,erstaunt, bevor sie es endlich probiert. Dann versank sie "in dem Duft und hörte, die Augenlider nahezu geschlossen, ein Lied, an das sie sich jetzt nach langer Zeit wieder erinnerte." (S. 41) Sie denkt, "manchmal ist das Leben schön!" Dieser Moment ist ihr Glücksmoment. Aber er dauert nicht. Der Fotograf, ein Mitarbeiter von ihr, kommt und versucht das Fläschlein zu klauen, aber Anna Gawrinina paßt auf und die beiden fangen an zu kämpfen. Der Direktor kommt und macht mit. Am Ende wird das Fläschlein zerbrochen und Anna Gawrinina sinkt in Ohnmacht und muß nach Hause gebracht werden. Sie kommt nie wieder zur Arbeit und bleibt verschwunden.
Anna Gawrinina ist eine gute Sozialistin. Ihre Arbeit ist ihr Leben. Sie ist keine Materialistin und merkt schon, wie die anderen Arbeiterinnen verdorben werden, indem sie Geschenke akzeptieren. Aber in diesem Moment, als sie das Parfum bekommt, erlebt sie das Glück und auch sie genießt etwas Materialistisches. Hier wird die Sozialistin Kapatalistin, und was folgt ist, daß sie ins Nichts verschwindet. Aber ich sehe nicht den Materialismus als Grund ihres Falls. Das Parfum hat sie wirklich glücklich gemacht. Es ist nur, daß die Menschen nicht wissen, wie sie handeln sollen. Es ist nicht die Schuld des Parfums, sondern die Schuld des Fotografen und des Direktors.   



*****   

In der neunten Geschichte geht es um die Gewalt und die ‘Alltagsbrutalität’ in Rußland. Ein älteres Ehepaar geht spazieren und sie verweilen auf dem schwarzen Markt zwischen Geldwechslern und Waffenhändlern. Sie handeln und wählen eine junge Waffenhändlerin aus. Sie bieten ihr an, sich mit ihnen am Newski zu treffen, um ihre Waren zu betrachten und um zu entscheiden, was sie kaufen wollen. Aber am Ende verstehen wir, daß das Ehepaar die Händlerin umbringen wollte. Diese Handlung ist immer ein Teil ihrer Spaziergänge, ihrer "Patrouille". Sie benutzen Gewalt gegen Gewalt und kämpfen gegen die neue Form von brutaler Kriminalität, die zuerst nach dem Fall des Kommunismus in Rußland erschienen ist.


     Das Thema taucht nochmals in der zwölften Geschichte auf. Hier ist der Erzähler der Held eines imaginären Aktion-films. Er geht mit dem mysteriösen Fotographen Mitja in eine Disco, wo er erfahren will, wer die Mafia beherrscht. Aber bald scheint es, als ob Mitja selbst in der Mafia ist und daß er unseren Helden umbringen will.

wpe3A.jpg (17333 bytes)
Newa

Der Held wird aber gerettet als seine Mitkämpferinnen Mitja erschießen. Jetzt folgt eine quasi-realistische chaotische Szene, in der viel zerstört und viele getötet werden. Was diese Geschichte über das Thema Kommunismus und Kapitalismus sagt, ist folgendes: Früher gab es solche Szenen nicht in Rußland, aber es wurde auch nicht als eine Möglichkeit präsentiert. Obwohl Schulze diese Szene in einer bewußt übertriebenen Weise beschreibt, sollten wir nicht vergessen, daß solche Dinge doch passieren. *(note) Solche Gewalt, wie sie hier gezeigt wird und auch in der neunten Geschichte beschrieben wird, ist das Produkt des beuen Kapitalismus.

***

KK mafia.jpg (32045 bytes)     In diesen drei Geschichten sind die Auswirkungen des Kapitialismus als negativ dargestellt. Besonders wird der neue Aspekt einer vorher nicht so erfahrenen Brutalität gezeigt. Korruption und Materialismus scheinen auch Hand in hand zu gehen. Die dreiundzwanzigste Geschichte besteht aus einem Gespräch zwischen zwei Mafiosos und in der 27. Geschichte werden auch die ‘Kurzgeschorenen’ oder die neuen Russen erwähnt. In Rußland sind diese Nachteile des Kapitalismus für viele ein großes Problem, die früher daran gewöhnt waren, ohne Angst zu leben und jetzt eine Nostalgie danach haben.

*****


     Aber Schulze spielt auch mit der Idee von Kommunismus in seinen Geschichten. In zwei Geschichten macht er eine Parodie daraus, die aber keine Parodie ist, weil es damals Realität war. In der 22. Geschichte erinnerte sich Viktoria Federowna an Pjotr Petrowitsch, der "ein durch und durch leidenschaftlicher Mensch, dazu ehrlich und bescheiden" gewesen war. Hier sind einige Ausschnitten aus seiner Rede:


"Wie kann man nur so reden. Wie kann man so blind sein! … Es ist nicht meine Art, lange Reden zu halten, ich bin ein einfacher Arbeiter… Wie kann das organisiert werden, daß zwei Komma acht Millionen Menschen zusammenleben?… Eine gigantische Aufgabe. Aber unsere Gesellschaft stellt sich ihr, sie verschließt nicht die Augen vor den Problemen. Ja mehr noch, sie ist für jeden von euch da. …
Vielleicht denkt ihr gar nicht mehr daran, daß es in eurer Wohnung warm ist. … Da seid ihr noch keine fünf Minuten wach und habt euch gerade mal aus dem Bett erhoben, aber nehmt schon tausendfach die Leistungen der Gesellschaft in Anspruch - als müßte das so sein. Und weil ich kein subjektiver Idealist bin, muß ich korrigierend ergänzen: Selbst wenn ihr schlaft, nehmt ihr die Leistungen der Gesellschaft in Anspruch. … Ein Beispiel: die Wärme…Begreift ihr, welch unendliche Arbeit, welch unendliche Sorgen und Mühen damit verbunden sind? Nur die Gesellschaft ist in der Lage, das zu lösen. Und dabei habe ich mir nur ein Beispiel unter Abertausenden herausgegriffen. … Alles bei uns ist so organisiert, daß die Produkte aus der Landwirtschaft und der Industrie die Menschen erreichen, für die sie gemacht sind. Jeder hat zu essen und zu trinken. … Aber trotzdem gibt die Gesellschaft euch alles. Dabei sage ich nichts Neues, und als ich hierherkam, habe ich es nicht für möglich gehalten, daß es notwendig sein würde, solch einfache Dinge zu erklären. Ich dachte, wir wären schon weiter und könnten uns der nächsten Etappe zuwenden." (S. 177-180)


     Die ganze Rede ist heute fast lächerlich, nur wenn wir uns daran erinneren, daß damals dies Realität war, ist es irgenwie nicht mehr lächerlich. Auch die Antwort auf solch eine Rede zeigt, wie ernst es gemeint war. Einer von den Arbeitern spricht im Namen aller und dankt Pjotr Petrowitsch, da er sie beschämte und auch belerhrte.

Die Kommunistin in der 25. Geschichte hält auch so eine Rede (S.196-198), und der Erzähler behandelt sie herablassend und nimmt sie nicht ernst.

Dieses Bild, das Schulze von den Leuten malt, stimmt auch im heutigen Rußland.

 

KK hammer.jpg (41523 bytes)

Vladimir
c

Leute wie die Kommunisten haben Nostalgie, eine Sehnsucht nach der Vergangenheit und reden noch heute so wie die Propaganda von einst. Sie sehen, was schlimm ist und wollen zurück. Sie können sich nicht daran erinnern, was damals schlimm war, und sie könnnen nicht das sehen, was heute gut ist.

KK parade.jpg (62115 bytes)
Neue Arbeit, Moskau 1998 - Feiern zum 850 Geburstag der Stadt
     Die 21. Geschichte enthält ein Gespräch zwischen einem alten Lehrer und seinem jüngeren Studenten/Verliebten, das die neue Situation spiegelt. Sie sprechen von Hoffnung und Ermutigung. Der Alte hat keine Kraft mehr. Der Junge sagt ihm: "Wenn ich dir zuhörte, in der Uni und danach, dann erschien mir alles auf dieser Welt verständlich, und ich glaubte zu wissen, wie man zu leben hat." Aber jetzt ist die Welt verändert, und der Alte kann sich nicht daran gewöhnen, sich nicht in die neuen Umstände finden. Er hat keine Nostalgie wie die Kommunisten, aber er ist psychologisch müde, erschöpft, resigniert. Der Junge versucht, ihn zu ermutigen. Er will immer weitergehen, immer arbeiten, immer spielen. Am Ende kann der Alte auch das Schachspiel nicht mehr zu Ende spielen. Er will einfach nicht mehr spielen. Die Hoffnung aber bleibt mit diesem Jungen.

   HOME